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Musikalische Reise

ins

Land der Vergangenheit

Von

Romain Rolland

Mit I 7 Bildnissen

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Literarische Anstalt Rütten & Loening Frankfurtam Main

Bereclitigte Übersetzung aus dem Französischen

von L. Andro loo Exemplare dieses Buches wurden auf holz- freies Papier gedruckt und nach einem Entwurf von Max Scliwerdtfeger in Leder gebunden.

Spam ersehe Buchdruckerei in Leipzig

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Ki? ^-^ Vorwort

Die meisten dieser Aufsätze ^ sind einer Übergangszeit ge- widmet, in der sich die Empfindung, der Schönheitssinn, die Form unserer modernen Musik vorbereiteten. Es ist eine in der Geschichte nicht seltene Erscheinung, daß es nicht die größten künstlerischen Persönlichkeiten sind, die die Bahnbrecher der Zukunft bilden. Menschen wie J. S. Bach überragen ihre Zeit zu hoch, um sie unmittelbar zu beeinflussen ; ihre Ausstrahlungen wirken erst in der Distanz. Es sind Leute wie Telemann, Hasse, die Mannheimer Symphoniker, welche die neuen Strömungen entfesseln. Ich habe hier versucht, Telemann wieder auferstehen zu lassen. Ich werde später von der Liebe und der Bewunderung sprechen, die ich für Hasse habe.

Man ist äußerst ungerecht gegen diese Meister gewesen. Zu ihren Lebzeiten war ihr Ruhm vielleicht übertrieben. Aber die Vergessenheit, in die sie seither gesunken sind, ist es sicher- lich noch viel mehr. Die Erwecker neuer Gedanken, wie Tele- mann und die Mannheimer, haben selten die Zeit, tief zu sein. Sie säen in alle Winde. Danken wir ihnen für die Früchte, die wir heute pflücken! Fordern wir nicht die Fülle des Herbstes von ihnen, da sie doch ein launenvoller und frucht- verheißender Frühling waren. Es werde jedem sein Los, und das der musikalischen Neuerer in der ersten Hälfte des 18. Jahr- hunderts war schön genug, denn sie haben Mozart und Beet- hoven die Wege gebahnt.

R. R.

Der satirische Roman

eines Musikers aus dem 17. Jahrhundert

Schon vor zweihundert Jahren überfluteten die Deutschen Neapel, Rom und Venedig mit ihren Fürsten, ihren Kauf- leuten, ihren Pilgern, ihren Künstlern und ihren Reisenden. Aber Italien war damals noch nicht wie in späterer Zeit aus- schließlich der empfangende Teil. Was es nahm, gab es hundert- fach zurück, und die deutschen Besuche blieben keineswegs unerwidert. Die Italiener nutzten die Erschöpfung, die der Dreißigjährige Krieg verursacht hatte, um Bayern, Hessen, Sachsen, Thüringen und Österreich mit ihren Kunstwerken und Künstlern zu überschwemmen. Namentlich Musik und Theater waren ihr Feld. Cavalli, Bernabei, Steffani, Torri be- herrschten München; Bontempi, Pallavicino Dresden; Casti, Draghi, Ziani, Bononcini, Caldara und G. Porta Wien; Vivaldi war Kapellmeister in Hessen-Darmstadt und Torelli in Branden- burg-Ansbach. Schwärme von Textdichtern, Dekorationsmalern, Sängerinnen und Kastraten, von Lauten-, Flöten- und Gitarre- spielern und Instrumentalisten aller Sorten strömten hinter den Hauptgrößen her. Vor ihrer Oper, dem köstlichsten Werk der sterbenden Renaissance, sprangen alle Tore auf. Der Mittel- punkt ihrer Propaganda war Dresden, dessen Italienisches Theater, 1662 gegründet, ein volles Jahrhundert hindurch euro- päische Berühmtheit genoß, bis zu Hasses Weggang. Auch das alte Leipzig hielt nicht stand. Im Jahre 1693 setzte sich dort die Oper fest, im Herzen deutscher Kunst, und ihre Be- gründer machten keinen Hehl daraus, daß hier ein zweites Dresden errichtet werden sollte. In wenigen Jahren war ihre Absicht erreicht. Und schon genügte der Opernmusik 'auch das Theater nicht mehr; sie drang in die Kirche, die letzte Zuflucht deutscher Sinnigkeit. Ihr glänzendes Pathos be- siegte rasch den Ernst der alten Meister, die Menge drängte zu diesen theatralischen Veranstaltungen. Sänger und Schüler der Thomaskirche verließen ihren Platz und gingen ins Lager

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des Feindes über; eine große Leere tat sich auf rings um die letzten Verteidiger nationaler Überlieferung.

Damals hatte die Thomaskirche einen Kantor namens Johann Kuhnau. Dieser Mann, eines der anziehendsten Beispiele des vielseitig entwickelten Genies, wie es dieses Heldenzeitalter der Kunst hervorbrachte, war, wie Mattheson sagt, sehr un- terrichtet in Theologie und Recht, Beredsamkeit und Dicht- kunst, in Mathematik, fremden Sprachen und Musik. Er hatte juristische Thesen verteidigt, darunter eine auf Griechisch; er war Advokat; er beschäftigte sich mit griechischer und hebräischer Philosophie, übersetzte französische und italie- nische Arbeiten und schrieb selbst wissenschaftliche und poetische Werke. Jakob Adlung sagt, er wisse nicht, ob Kuhnau dem Orden der Tonkünstler oder der Gelehrten mehr Ehre gemacht habe. Als Musiker war er zweifellos eine der Säulen älterer deutscher Kunst. Scheibe hielt ihn, Keiser, Telemann und Händel für die vier größten deutschen Komponisten des Jahrhunderts. Wirklich besaß er eine Tiefe des Empfindens und zugleich eine Schönheit der Form, eine Anmut, geformt aus Kraft und Klarheit, die seinen Namen noch heute bekannt machen müßte wenn es in der Welt außer der Musikmode ein ernstes Musikinteresse gäbe. Kuhnau war der Schöpfer der modernen Sonate ; er komponierte Klavier- suiten, die Musterbeispiele von Leichtigkeit und Temperament sind, mit einem leisen Hang zur Träumerei. Er schrieb poe- tische Programmusik unter dem Titel „BibHsche Historien", geistliche und weltliche Kantaten und endlich eine Passion, die ihn, kurz ausgedrückt, nicht nur zum unmittelbaren Vor- gänger an der Thomaskirche in Leipzig, sondern in vieler Hinsicht zum unleugbaren Vorbild Johann Sebastian Bachs stempelt.

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Wenn man die Worte liest, mit denen er eine seiner be- m-erkenswertesten Kompositionen beim Publikum einführt, ahnt man etwas von der stillen Anmut dieser reichen Natur. Um für die phantasievolle Ausführung seiner scharmanten „Klavier-Früchte aus 7 Sonaten" Nachsicht zu erbitten, sagt er, er sei ,,in diesem Stücke so frey gegangen, als etwa die Natur, welche, indem sie die Bäume mit Früchten behänget, einem Aste immer reichlicher oder weniger mittheilet, als dem andern . . . Ich habe mir nicht viel Zeit darüber genommen, es ist damit fast zugegangen, \s-ie mit denen Früchten in Reussen und andern Mitternächtischen Ländern, was man da in einem Monate säet, das zwinget die Hitze auff einmahl so heraus, daß man im andern Monate einerndten kan: Ich habe diese sieben Suonaten in einer Hitze, wiewohl auch neben meinen andern Verrichtungen, hingeschrieben, daß ich jeden Tag eine verfertiget, und also dieses Werck, welches ich des Montags in einer Woche angefangen, den nechstfolgenden Montag der andern Woche drauf f beschlossen habe. Solches erinnere ich zugleich mit zu dem Ende, daß sich Niemand i?antät dabey versprechen solle. Wiewohl man sehnet sich auch nicht allemahl nach etwas seltzames: Wir essen ja öffters Kraut und Rüben oder andere auff unsern Aeckern gewachsene schlechte Früchte, mit so grosser Lust, als die von weitem her- gebrachten kostbaren Granat- Aepf fei. Es haben zwar etliche Liebhaber der Music ein so verleckertes Maul, daß ihnen nichts anstehet, als was etwa nach dem Italiänischen oder Frantzö- sischen Erdreiche schmecket . . . Inzwischen, wer meine Früchte wil, dem stehen sie zu Dienste, wem sie nicht ge- fallen, der suche was Bessers. . . . Was die jenigen Leute anbetrifft, welche die Composition nicht verstehn und doch ein ungütig Urtheil sprechen werden (welches gemeiniglich geschiehet;) So mache ich mir deßwegen keine Sorge, und

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wird mir ihr Gifft so wenig schaden, als etwa der Melthau dem reiffen Obste."

Im gleichen Jahre, 1700, ließ Kuhnau seine schönen und ausdrucksvollen ,, Biblischen Historien" erscheinen und einen Roman, mit dem wir uns länger beschäftigen werden. Er war damals dreiunddreißig Jahre alt. Er lebte allein inmitten von Italienern und ihren Nachahmern. Seine Freunde, seine Schüler hatten ihn verlassen. Er sah die alte deutsche Musik zusammen- brechen und machte vergebliche Versuche, ihren Sturz auf- zuhalten. Umsonst wandte er sich an den Rat der Stadt, um die öffentliche Erziehung zu schützen, die nicht nur von dem Zauber der fremden Kunst bedroht war, sondern mehr noch durch die Lockungen leichtfertigen Lebens und mühe- losen Gewinns, die als Begleiterscheinungen des Opernwesens die Leipziger studierende Jugend verführten. Der Rat gab Kuhnau unrecht und dem Erfolge recht. Bei Kuhnaus Tode, 1722, war die Oper Herrin über Deutschland. Man sollte denken, daß eine solche Ungerechtigkeit des Schicksals das Herz des Meisters mit Bitterkeit habe erfüllen müssen. Aber die Künstler jener Zeit zogen ihre Melancholien nicht groß, und Kuhnau scheint seinen gutmütigen Spott feindlichen Menschen und Dingen gegenüber nicht eingebüßt zu haben. Er kannte die Welt und war nicht weiter überrascht, daß die Schwindler den ehrlichen Leuten den Rang abliefen. „Es gehet mit den Künstlern, wenn sie erst in eine Stadt kommen, fast wie mit den neuen Heringen zu, denn gleich wie sich ein jeder nach dieser neuen Kost immer eher sehnet, und mehr Geld davor giebet, als vor ein ander Gerüchte, das er immer über seinem Tische hat; Also pflegen die Leute auch einen neu- angekommenen Menschen mit seiner Profession immer höher zu aeMimiren." Aber da er ein gläubiger Mann war, nicht nur in bezug auf Religion, sondern auch auf Kunst, zweifelte er

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nicht an dem Endsieg seiner Sache; einstweilen aber nahm er seine heitere Revanche an der Dummheit und der Unwissen- heit, indem er sie in einem satirischen Roman, genannt „Der musikalische Quacksalber" ^^ auftreten ließ.

Dieses merkwürdige Buch, 1700 in Dresden erschienen und im 18. Jahrhundert sehr bekannt, war uns nur mehr in zwei Exemplaren erhalten, einem in der Königlichen Bibliothek zu Berlin, einem in der Leipziger Stadtbibliothek, als Kurt Benndorf den Einfall hatte, es in der Sammlung der Deut- schen Literaturdenkmäler von A. Sauer^ neu herauszugeben.

Man liest dieses kleine, flüchtig hingeworfene Werkchen, das unter französischem Einfluß in klarer, leichter, lebhafter und kurzgegliederter Sprache abgefaßt und mit italienischen und französischen Worten durchsetzt ist, noch immer mit Vergnügen. Es steckt voll Witz und sprüht von Geist. Nur selten entstellt ein Anflug von Pedanterie, der Krankheit jener Zeit, seine sympathischen Züge. Man kann aus diesen bunten Bildern sächsischen Lebens im 17. Jahrhundert mancherlei lernen. Sie beleuchten eine der interessantesten Epochen, die rasche Gesundung des Landes nach dem Dreißig- jährigen Kriege und die Vorbereitung des großen klassischen Jahrhunderts in der Musik.

Der Held des Romans ist ein schwäbischer Abenteurer aus der Umgebung von Ulm, welcher die Vorliebe der Deutschen für alles Welsche benutzt, um sich in seinem Lande für einen Italiener auszugeben. Zwar war er nur ein Jahr in sehr beschei- dener Stellung in Italien gewesen, als Kopist oder Famulus einiger berühmter Musiker; aber das hatte genügt, um ihn zu überzeugen, daß das Genie seiner Meister auf ihn übergegangen sei. Allerdings hütet er sich, das in Italien auszuprobieren, da er wohl weiß, daß es ihm in Rom oder Venedig kaum ge-

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lingen würde, seine Ansprüche durchzusetzen; so durchquert er lieber die Alpen und rechnet auf die Naivität seiner Lands- leute und ihre demütige Bewunderung für alles Fremd- ländische.

Er begibt sich direkt nach Dresden, dem Mittelpunkt des Italienkultes und Mekka der Oper. Er beginnt damit, seinen Namen zu verändern; aus einem Schimpfnamen seines Vaters ,,Theueraffe" wird der Name einer ausgezeichneten neapoli- tanischen Familie: Caraffa. Es gehörte zu den Verschroben- heiten jener Zeit, deutsche Namen zu verwelschen. Kuhnau macht sich darüber mit dem derbgesunden Humor eines Mö- llere lustig:

„Wo diese Lateinische Nahmen von ihren Eltern und Vorfahren auf sie gepflantzet werden, so sind sie zu ent- schuldigen, wenn sie dabey bleiben . . . Sondern wenn sie selber anfangen, ihre Nahmen zu ändern und ein sonder- liches Geschlechte daraus zu machen ... So weiß ich nicht, wie sie damit bestehen können. Sie wären werth, daß es ihnen gienge, wie jenem, der sich Rapparius nennete und von seinem verstorbenen Bruder, der Niclas Riebener geheissen, erben wollte, aber von dem Magistrat abgewiesen wurde, weil aus seinem in dem deßwegen eingegebenen Schrei- ben unterzeichneten Nahmen incontinenti zu sehen war, daß er sich zu dieser Erbschafft nicht legitimiren kunte. Manche sind solche Narren, daß sie gerne Frantzösische Nahmen führen wollen. Ich kante einen, der Hanß Jelme hieß . . . Gleich wie nun seine gantze Kleidung, Stellung und Lebens- Art Frantzösisch seyn muste; Also wolte ihm auch sein teut- scher Nähme nicht länger anstehen. Zwar beruhete seine gantze Wissenschafft in der Frantzösischen Sprache bloß auff diesen Worten: Monsieur, je suis vötre tres humble Serviteur . . . Jedoch muste der Nähme Frantzösisch werden. Und weil er noch

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über dieses gerne ein Edelmann seyn wolte, so meynte er, es wäre, in dem er seinen Nahmen sonst änderte, ein Auffwaschen, wenn er das ,4e" oder „von" seinem Zunahmen beyfügte.' Dannenhero schrieb er sich: Jean de Jelme, oder Hanß von Jelme: Aber er hatte sich nicht eben eingebildet, daß die Frantzösische Pronunciation denen Teutschen so lächerlich vorkommen und Schand-Schelm herausbringen würde. Wie nun dieser mit seinen frembden Nahmen bilhg in Schand und Spott gerathen ist, also verdienten alle diejenigen, welche sich ihrer teutschen Nahmen schämen, und durch deren Ver- änderung ein Falsum begehen, daß Teutschland sich ihrer wieder schämete und sie mit andern Falsanis aus seinen Gräntzen verweisen ließ".*

Kuhnau predigte tauben Ohren. Es genügt, daß ein „Theuer- Affe" sich Caraffa nennt und ein paar italienische Worte stammelt, um bei der musikalischen Gesellschaft Dresdens freudigsten Willkomm zu finden. „Denn sie waren auch aus der thörichten Zunfft derjenigen, welche meyncn, ein (7om- Vonist oder andrer Musicus, der nicht Italien gesehen, sey ein alberer Gritz-Kopff, und könne hingegen die Welsche Lufft die Leute von den vollkommensten Wissenschafften, wie etwa der Wind in einer gewissen Landschafft in Lusitania oder Por- tugall, wie Plinius Hb. 3 gedencket, die Pferde schwanger machen."^ Übrigens versteht Caraffa ausgezeichnet, die öffentliche Neugierde aufzureizen und wach zu erhalten. Er läßt sich aus den verschiedensten Gegenden Europas Briefe mit pomphaften Aufschriften schicken: ,,Äir illustrissimo Si- gnam, il Signor Pietro Caraffa, maestro incomparabüe di musica" oder deutsch: „Dem Wohl-Edlen, Vesten und Sinnreichen Herrn Petro Caraffa, Hochberühmten Italiänischen Musico und unvergleichlichen Virtuosen." Die Angabe der Wohnung ist wie aus Nachlässigkeit fast immer unterlassen, so daß der

Bolland Musikalische ßeise 4 7

Bote von einem Hause zum andern laufen muß, um nachzu- fragen, ob niemand den Orpheus dieser Zeit, den unvergleich- lichen Virtuosen kenne. Nach wenigen Tagen kennt jeder seinen Namen, und er ist berühmt, ehe er noch zum Vorschein ge- kommen ist. Das Collegium Musicum in Dresden schickt eine Deputation, lädt ihn ein, seinen Sitzungen beizuwohnen und bietet ihm Willkommensgrüße in den höchsten Ausdrücken wie einem Fürsten, der seinen Einzug hält. Man gibt Konzerte ihm zu Ehren und beschwört ihn, sich daran zu beteiligen. Caraffa läßt sich bitten: trotz einiger Geläufigkeit auf der Theorbe und der Gitarre ist seine Begabung untermittelmäßig. Er hütet sich auch, sie zu zeigen, und erfindet allerlei Vor- wände, um den Augenblick hinauszuschieben, in dem er sich hören lassen soll. Er hat, versichert er, eine prächtige Stimme, allein er kann nur italienische Texte singen, und das Kollegium besitzt blos deutsche Partituren. Er ist ein einzigartiger Violin- spieler, aber ein eifersüchtiger Rivale, der ihn ermorden wollte, hat ihm die Hand durch einen Dolchstich verletzt, und er muß noch einige Monate bis zur Heilung warten. Endlich willigt er ein, ein Konzert auf dem Klavier zu begleiten, da er zu merken glaubt, daß das Stück zu den leichtesten gehört. Allein um ihn zu ehren, ersetzt man es durch ein schwieriges. Nun soll das Klavierspielen überhaupt nicht das Rechte sein: denn nur in die unvergleichliche Kunst der Komposition habe er sein ganzes Talent gelegt. Wenn er sich hie und da ein wenig auf dem Klavier exerziere, so sei es, weil er sich begleiten müsse, wenn er eine seiner Kompositionen vortrage. Aber dies sei eine seiner geringsten Beschäftigungen. Im übrigen sei die italienische Klaviermusik einfach und habe nicht die bizarren Komphkationen, die dem deutschen Geschmack Wohl- gefallen. Nach allen diesen Ausflüchten setzt er sich endUch ans Klavier, präludiert ein paar volle Griffe und stellt unter

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einem Verwände zwei Schnupftabaksdosen neben sich. „Wenn sich viel Species oder Ziffern über den Noten sehen Hessen, die er etwa mit der rechten Hand exprimiren solte; So fuhr er mit derselben nach der zur rechten gelegten Toback-Büchse zu und schnupffte einmahl: Kahmen aber in dem Basse ge- schwinde und flüchtige Noten, so griffe er mit der lincken Hand nach der andern Büchse und damit gieng unterdessen das Schwere, so ihm Angst machte, vorbey." ^

Kuhnau hat die sächsische Natur mit ihrem Gemisch von Naivität und Schlauheit, ihrer schwerfälligen und spottlustigen Gutmütigkeit sehr wohl beobachtet. Diese wackern Leute, die sich Caraffa in einem lächerlichen und rührenden Hoch- achtungs- und Bewunderungsbedürfnis genähert haben, sind viel zu gute Musiker, um nicht bald die Talentlosigkeit dieses Klavierspielers zu merken; aber noch bemüht sich ihre Nach- sicht, Entschuldigungen zu finden. Es ist schwer, ihr Vertrauen zu erschüttern; aber wenn der Zweifel einmal in ihre ehrliche Seele eingezogen ist, reißt ihn nichts mehr heraus. Sie be- obachten den falschen Italiener, ohne daß er etwas ahnte, mit bedächtiger Gewissenhaftigkeit; sowie sie ihre Meinung gebildet haben, empören sie sich nicht etwa über den Schwindler und jagen ihn davon, sondern sie amüsieren sich stillschweigend ; sie spielen ihre Komödie mit ihm; sie spornen ihn zu neuen Lügen und Aufschneidereien an, sie reizen ihn, seine anspruchs- vollen Dummheiten vorzubringen; sie lachen so lange heimlich über ihn, indem sie Bewunderung heucheln, bis der konsternierte Caraffa endlich doch' merkt, daß man ihn seit Wochen zum Narren hält. So bringen sie ihn dazu, daß er trotz seiner Vorsicht sein ganzes Nichtskönnen verrät, indem er ihnen einige seiner Werke zeigt, und damit er nicht etwa sein gewöhnliches Kompo- sitionsverfahren anwende, welches in unverschämtem Ab- schreiben besteht, sperren sie ihn ein und beobachten ihn von

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draußen. „Wie aber Caraffa sein Lied dichten wolte, hatten alle Gliedmassen des Leibes mit zu thun. Bald pfiffe er mit dem Maul; Bald drommelte er mit den Händen; Bald fingerte er auf f dem Tische ; Bald liedelte er etwas mit der Zunge her ; Daß auch die Mensur nicht aussen bleiben möchte, so muste bald sein Kopff, bald auch sein Fuß den Tact halten. Es kan kein Mann, der das schwerste Handwerck treibet, sich so sehr bemühen, als hier Caraffa that. Er hatte sich bald anderthalbe Stunde so zerbremset, daß ihm der Schweiß immer zum Ge- sichte und Rücken unstreitig herunter lauffen muste: Und gleichwohl konte man noch nicht sehen, daß sich eine Melodie aus seinem Kopffe wolte herausschütteln lassen. Er dachte endlich, wenn er nun die Feder in die Hand nähme, und selbe in die Dinte tuncke, da würde alsdenn schon was heraus fliessen ... Es war aber kaum ein Tact fertig, so striche er ihn wieder aus ... Er dachte, er müste seinen musicalischen 'poetischen Geist auff eine andere Weise auffwecken, er machte sich auff die Beine und Ueff die Stube mit solchen Ungestümm auff und nieder, als wenn er tolle wäre, und Thür und Mauren auffrennen wolte. Das trieb er eine gute viertel Stunde, doch wolte sich noch nichts erhaschen lassen. Endlich kam er auff der Spieler abergläubische Gewohnheit, welche, wenn sie unglücklich sind und nichts gewinnen können, von ihrem vorigen Orthe wegrücken, und einen neuen Sitz suchen. Er verließ Tisch und Bäncke, satzte sich unten in der Stube auff den Thielen nieder, und fieng an zu schreiben. Er hatte alle seine Lebens-Geister zu dieser Arbeit angestrenget, drumb merckte er auch nicht, daß ungeachtet es bald Mittag war, die Lampe noch immer brennete . . . Hierauff fielen Caraffen die Melodien vierer Lieder ein: Das Erste war: Guten Abend Garten-Mann. Das Andere: Dämon gieng in tieffen Sinnen. Das Dritte: Eine schöne Dame wohnt in dem Land, Das

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Vierte: Sie schiäffet schon. Quählte ihn nun vormahls der Mangel, so plagte ihn ietzo der Ueberfluß, weil er nicht wüste, welche Melodie aus diesen vier schönen Arien sich am besten zu dem Madrigale schicken und am wenigsten bekandt seyn könte. Er vermeynte dieser Difficultät durchs Loß abzuhelffen und durch die Würffei zu erforscFen, doch änderte er diese Resolution bald wieder, und entschloß sich, aus allen diesen 4. Melodien die Quint-Essence zu nehmen." ' Man kann sich denken, wie sich die Dresdener Musiker angesichts solcher Unfähigkeit vor Lachen schütteln. In Leipzig, wohin sich Caraffa nachher wendet, wird ihm von den Bürgern und Stu- denten noch ärger mitgespielt; sie spannen ihn mit einem andern lächerlichen Musikus zusammen, hetzen sie gegen- einander in possenhafte Wutausbrüche und ziehen sie am Ende vor ein groteskes Tribunal, in einer komischen mytho- logischen Maskerade, auf welche die beiden Narren hinein- fallen und die an die Zeremonie im ,, Bürger als Edelmann" erinnert.^

Wiewohl er besiegt, verhöhnt, geschlagen ist, verliert Caraffa seinen Gleichmut nicht. „Wiewohl nun Caraffa unterwegens Ursache genug hatte, seinen Zustand zu beklagen ... So ließ er sich doch solches so wenig anfechten als etwa die Quack- salber und Landstreicher, wenn ihr allzugrober Betrug in einer Stadt einmahl offenbar worden und sie sich daher aus dem Staube machen müssen. Dergleichen Leute dencken: es giebt viel Länder und Städte in der Welt, ist einer gleich an 10. 20. biß 30. Orthen verrathen, so kan er ja nur weiter gehen, und gehöret doch viel Zeit dazu, ehe die Leute in anderen 20. 30. oder 40. Städten, da er sich hinbegiebet, seine Ignoranz und Betrügerey gleicher Gestalt mercken können; Immittelst aber gehet er doch nicht hungrig zu Bett und bringet noch immer ein Kleid nach dem andern an seinen Leib."® Überall auf seinem

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Wege nimmt er mit der größten Freiheit Keller, Tisch und Bett der Cantores^ Organisten und Musiker in den kleinen Ländern in Anspruch, die er mit seinen Großsprechereien blendet. Er nützt die törichten Musiknarren und die unwissenden Kauf- leute, die sich für Kenner ausgeben, weil sie die Künstler bei sich speisen lassen, reichlich aus. Er läßt sich auf großen Landsitzen bei gelangweilten Krautjunkern nieder, die nicht anspruchsvoll in bezug auf die Qualität seiner Musik und seiner Scherze sind. Er füllt fleißig Magen und Börse bis zu dem Augen- blick, in dem er fühlt, daß man seiner überdrüssig wird ; dann macht er sich aus dem Staube, zwar ohne Lohn zu fordern, aber nicht, ohne zuweilen einiges Silberzeug mitgehen zu lassen. Er betrügt arme Dorfschulmeister um ihre Ersparnisse, indem er ihnen verspricht, ihnen innerhalb eines Jahres einen Kapell- meisterposten an einem fürstlichen Hofe zu verschaffen, und lacht ihnen ins Gesicht, wenn sie verzweifelt und fluchend ihr Geld später wiederhaben wollen. Wenn einer von ihnen den Scherz übelnimmt und eine Klage einbringt, ist das seine Sache: Caraffa rechnet mit der Langsamkeit der deutschen Gerichte.

Endlich aber hat der Gauner eine Stütze, die nie versagt und ihn in allem Mißgeschick tröstet: die Frauen. Sie sind nicht immer verführerisch, aber immer verführbar. Lange vor der ,,Kreutzersonate" hat Kuhnau die Macht der Musik und namentlich der ausübenden Künstler über das Frauenherz erkannt. Die lustigste und breiteste Episode ist jene der Schloßfrau von Riemelin (Hernitz), die ich gern wieder er- zählen würde, wenn die Fabel, mehr gallisch als deutsch, nicht etwas zu gewagt wäre; übrigens ist ein anderer Lauten- kratzer der Held, und Caraffa spielt nur die zweite Rolle^''. Aber er selber ist auch ein Don Juan und gewinnt die Herzen der römischen Damen mit einer Sonate eigener Erfindung. „Da

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sähe man die ireundlichsten Oeilladen und Blicke; Da setzte es eine reiche Spende von verliebten Mäulergen." ^^ Kaum in Leipzig angelangt, verdreht er dem hübschesten Mädchen der Stadt den Kopf; sie ist schön, brav, reich, musikalisch. Sie verliert alle Beherrschung und allen Verstand, sowie Caraffa auf dem Klavier herumpaukt und dazu mit seiner rauhen Stimme singt. Als der Vater, ein Großkaufmann, namens Pluto, von diesem Liebeshandel erfährt, gerät er außer sich vor Zorn; er beschimpft seine Tochter und verjagt den Ehrenmann. Indessen treffen sie einander doch nachts im Garten zum Stelldichein, und Caraffa singt ihr Szenen aus ,, Orpheus" vor, indem er sich mit seinem Helden identifiziert; die Kleine würde nicht ungern Eurydice spielen und aus dem Hause Plutos durchgehen, wenn nicht im letzten Augenblick eine große Teufelin erschiene, in Gestalt der Tochter des Stockmeisters, die ein Kind von Caraffa aus der Zeit trägt, da er wegen seiner Diebereien im Gefängnis in Zittau saß. Sie packt den Verführer an der Gurgel und fordert unter wildem Geschrei die Heirat. Mitten in diesem Lärm entflieht die junge „Plutonin" und kehrt nicht wieder. ^^

Diese närrischen Begebenheiten spielen sich in einem echten, sehr wohl beobachteten Rahmen ab: da gibt es Gerichts- und Jahrmarktsszenen, Quacksalber auf öffentlichen Plätzen, Bauern im Wirtshaus, Landjunker auf ihren Gütern, Bürger an ihrem Tische oder in ihren Geschäften, und immer ist die Sprache und Art jeder Menschenklasse mit Humor beobachtet. Im Vordergrunde steht die Welt der Musiker und der Studenten. In jeder dieser sächsischen Städte besteht ein Colkgium musicum. Das ist eine Gesellschaft, die alle Musiker der Stadt regelmäßig ein- oder zweimal wöchentlich in einem be- sonderen Saale vereinigt. Jeder bringt sein Instrument mit,

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und zwei der Mitglieder haben abwechselnd für die Musik- stücke zu sorgen: Konzerte, Sonaten, Madrigale, Arien. Man diskutiert weitläufig über die Kunst, komponiert gegebene Texte, plaudert freundschaftlich. Zuweilen gibt das Kollegium ein Bankett und bringt zum Schluß verschiedene ernste oder heitere Musikstücke zur Aufführung. Meist beherrscht jeder ein Instrument und den Gesang. Es sind übrigens nicht immer Musiker von Profession, sondern vielfach Bürger mit andern Berufen. Der, bei dem sie sich in Dresden vereinigen, ist Steuereinnehmer. 13

Die Musik hat auch ihren Platz auf den Universitäten und in den CoUegia oratoria. In Leipzig wohnen wir einem Actus oratorius der Music halber bei, der ein Instrumentalkonzert ab- schheßt. Zwei Studenten halten Reden, der eine verherrlicht,, der andere verdammt die Musik. Es ist nicht weiter erstaun- lich, die Musik von einem großen Musiker preisen zu hören, aber es ist bemerkenswert, daß er Beschuldigungen gegen sie erhebt, die tief gehen und beweisen, wie scharf er seine Zeit ansah. ,,Die Music^\ sagt er, „hält ihre Liebhaber von andern wichtigern Studiis ab und würden sich manche kluge Köpffe in der Welt mehr finden, auff welchen, als auff steinernen Pfeilern, der Bau der gemeinen Wohlfahrt und der Glück- sehgkeit des Landes sich besser stützen könte, wenn die Leute sich in dem Irrgarten dieser unnützen Kunst nicht zu weit vorgiengen. Zwar es wollen auch große ^tofs-Leute den Nahmen haben, als aestimirten sie die Mitsic höchlich; aber es steckt vielleicht eine raison d'Etat darhinter: Denn hiedurch dencken sie dem müßigen Volcke eine Diversion zu machen und alle Gelegenheit zu nehmen, daß ihnen niemand so leichte in die Karte gucken könne. Es würden in Italien nicht so viel Pickelheringe oder Aertzte auff ihren Buden auff- treten und den Leuten die Zeit stehlen dürffen, wenn nicht die

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klugen PolUici zu besorgen hätten, es möchten die Leute sich in ihr geheimbdes Etats-Cahinet mit eindringen." ^* Sicherlich ist das Beispiel Italiens gut gewählt; denn wenn es auch wahr ist, daß es seinen Ruhm und seinen Einfluß auf Europa der Musik verdankt, so hat auch die Musik dazu beigetragen, seine mora- lischen und politischen Fähigkeiten zu schwächen. Vom Italien des 18. Jahrhunderts kann man mit einigen Veränderungen sagen, was Ammianus Marcellinus schon vom Italien zur Zeit der Völkerwanderung sagte: ,,Es ist eine Stätte des Vergnügens. Man hört überall Musik und Saitengeklimper. Statt Denkern begegnet man nur Sängern ; das Verdienst hat seinen Platz der Virtuosität eingeräumt." Caraffa ist ein schlagendes und kaum übertriebenes Beispiel für einen italienischen Virtuosen um 1700 und für die Leere seines Hirns. Nichts interessiert ihn außer der Musik, und in der Musik interessiert ihn nichts als die Virtuosi- tät. Er kennt die berühmten Meister seiner Zeit nicht, hält Rosenmüller für einen Italiener, ist ganz unwissend in der Harmonielehre und weiß nicht was ein „contrapunto semplice o doppiö" ist.i^ Er spricht nur von seiner Laute, seiner Violine oder seiner Gitarre und hauptsächlich von sich, von sich, immer wieder von sich. Wovon man auch redet, von Krieg, Handel, Geschäften, einer schönen Predigt oder vom Stockschnupfen, er findet immer Mittel und Wege, das Gespräch auf sich zu lenken und immer, indem er von sich in der dritten Person spricht: „Was tat mein Caraffa ?" oder „Caraffa war kein solcher Narre . . ." ^^ Außerhalb seiner Konzerte liegt die Welt für ihn im Nebel. „Er wüste flugs nicht, wo London oder Stock- holm, ob es in Holland, Franckreich oder sonsten wo läge, ob die Nordischen Cronen die Türeken oder ob hingegen die Otto- mannische Pforte die Spanier wären . . . Sein Verstand war wie ein solcher Schranck mit Gefachen, da nur in einem Fache etwas lieget, die andern aber alle leer sind." ^' Die Musik hat

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da ein Monstrum hervorgebracht. Es gab deren im Überfluß im ItaUen des 18. Jahrhunderts; sie fehlen auch heute nicht. Kein Land bleibt von ihnen verschont.

Im damaligen Deutschland schuf die Musik nicht ganz die gleichen Gefahren. Sie fand ein Gegengewicht in den philo- sophischen und literarischen Studien, mit denen man sie öfters vereinigte. Man betrieb sie nicht, als wäre sie bloß ein Fest für die Sinne. Die größten deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts, Schütz, Kuhnau, Händel, empfingen ernsten Unterricht, machten gründliche Pvcchtsstudien, und es ist bemerkenswert, daß sie, wie es scheint, einige Zeit zögerten, ehe sie Berufsmusiker wurden. Ein italienischer Virtuose des 18. Jahrhunderts war nur eine klingende Schelle. Bei einem musikalischen Deutschen behält die Vernunft ihre Rechte, sogar gegenüber der Kunst. Aber dieser mannhafte Geist fing langsam an, sich von den Verführungen Italiens bestechen zu lassen. Kuhnau sah, daß in Dresden und Leipzig, geradeso wie in Rom und Florenz, fürstliche Personen das Patronat über die sinnlichste und auflösendste aller Künste übernahmen, die die natürliche Verbündete des Despotismus war. Sein Roman ist ein Beweis dafür, welch unwiderstehliche An- ziehungskraft der italienische Virtuose auf alle Gesellschafts- kreise ausübte. Wenn Caraffa in einem Landwirtshause ein- kehrt, findet er dort den gleichen freudigen Empfang wie in den Städten bei den großen Kaufherren. ^^ Der öffentliche Geschmack war krank. --

Aber Kuhnau fühlte seine Kraft zu gut, um ernstlich besorgt zu sein. Er sieht das Übel, aber er lächelt darüber, denn er weiß, daß es nicht dauern wird. Sein unverbitterter Optimis- mus geht sogar so weit, daß er die Bekehrung der Sünder voraussieht. Am Schluß des Romans wird Caraffa durch die Ermahnungen eines vortrefflichen Pfarrers gerührt und geht

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in sich; wenn diese Reue auch bei einem solchen Charakter nicht sehr wahrscheinlich ist, so danken wir ihr doch die schöne Abhandlung des Autors: „Der wahre Virtuose und glückselige Musicus" .^^ Er fordert allerdings viel von einem solchen. In musikalischer Hinsicht will er, daß der Komponist alle Instru- mente beherrsche und daß dem Sänger oder dem Instrumenta- listen, namentlich aber dem Klavierspieler die Kompositions- tätigkeit nicht fremd sei. Aber diese berufliche Ausbildung genügt ihm noch nicht. Kuhnau wünscht, daß der Komponist allgemeine wissenschaftliche Kenntnisse besitze, namentlich in Mathematik und Physik, ,, welche gleichwohl der Music Funda- ment ist". Er müsse über seine Kunst nachdenken und die Musiktheorie kennen, und zwar nicht nur die seiner Zeit, sondern auch die der Vergangenheit, zumal die des Altertums; auch möge er nicht wie Caraffa an den historischen, poUtischen und sonstigen Interessen seiner Zeit vorbeigehen.

Doch bedeuten diese geistigen Qualitäten noch nicht viel ohne die moralischen. Ein Virtuose verdient den schönen Namen Virtü noch nicht, wenn sich seinen Tugenden in der Kunst nicht auch die seines Lebens geselle. Wie der heilige Augustin sagte: ,,Cantet vox, cantet vita, cantent facta." Sein Werk sei nicht dem Erfolge gewidmet, sondern der Ehre Gottes. Das Publikum, sein Geschmack und sein Beifall dürfen ihn nicht kümmern. ,,Wenn du nur durch deine Music mehr dem Volcke als Gott gefallen, und also einen eitlen Ruhm suchen wilt; So verkauf festu deine Stimme und opf ferst dieselbe nicht deinem Gott als deine eigne Stimme, sondern es hat sie nunmehr ein anderer." 21 So sei der Künstler denn bescheiden vor Gottes Antlitz, aber dennoch sei er sich zugleich des eigenen Wertes bewußt. Ein Künstler, der etwas kann und dies weiß, soll nicht zu demütig sein und sich von der Welt zurückziehen. Wenn er der Welt etwas zu geben hat, soll er nicht das Dunkel

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und die Einsamkeit suchen. Ein Mann, der Gaben hat und sie versteckt, verrät einen schwachen Charakter, der kein Ver- trauen in die großen Schwingen hat, die Gott ihm gab, um in die Höhen zu fliegen. So handelt ein Feigling, der Angst vor Mühsal hat; vielleicht steckt da auch eine böse Art von Eifersucht dahinter, die dem andern von seinen Reichtümern nichts mitteilen will, wenn er es ,,wie die Hirsche machen wolte, welche, nach des Plinii Vorgeben, wenn sie sterben wollen, ihre Geweyhe ablegen und verscharren, damit sie niemand finden und zur Artzeney gebrauchen soll". Viele Musiker sind zu oft von solcher Art; wenn sie ein schönes Musikstück haben, ließen sie sich eher die Kleider vom Leibe reißen, als eine Note davon mitzuteilen. Der Künstler verschmähe diese engherzige Sparsamkeit mit seinen Gütern, seinen Gedanken, seinen Kräften! Er streue sie großmütig ringsum aus, ohne Eitelkeit und indem er alle Ehre dem göttlichen Ursprung zuschreibt. Er tue alles Gute, das ihm möglich ist. Und wenn man ihm hienieden keinen Dank weiß wie es auf dieser Welt zu sein pflegt , so wird sein gutes Gewissen sein Lohn sein und ihm den Vorgeschmack der himmlischen Freuden geben, die ihn erwarten, ,,biß er endlich nach diesem Leben in die Schloß- Capelle des großen Gottes, wo die Engel und Seraphinen mit der vollkommensten LiebUgkeit musiciren, befördert wird." ^a

In diesen Gedanken, wie in dem ganzen Buche, ist ein Gleich- gewicht der Gedanken, eine ruhige Selbstsicherheit, eine ver- borgene Kraft, welche die Ruhe erklären, mit der die alten deutschen Meister des 17. Jahrhunderts wie Schütz, Johann Christoph Bach, Johann Michael Bach, Pachelbel, Buxtehude in die Zukunft bhckten. Sie kannten von Grund aus die andern und sich selber. Sie warteten auf ihre Stunde. Diese Stunde hat für Deutschland geschlagen; sie ist schon wieder vorüber.

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Welcher Unterschied zwischen der fieberhaften Nervosität seiner Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts und der ruhigen Fülle vergangener Zeiten ! Allzu vollständige Siege lähmen die Seelen der Sieger; nach dem ersten Rausch zerbrechen sie die Triebfeder des Willens und nehmen ihm die Impulse des Schaffens. Wagners sieggekrönter Genius hat die Zukunft der deutschen Musik verheert. Die gesegnete Friedsamkeit Kuhnaus war erfüllt von der Idee der Zukunftsschicksale der deutschen Kunst und wie von einer Vorahnung seines großen Nachfolgers Johann Sebastian Bach.

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IL

Die Musik

im Leben eines englischen Dilettanten

unter Karl II.

Nach dem Tagebuch von Samuel Pepys

SAMUEL PEPYS

Nichts gibt ein erheiternderes Bild des musikalischen Lebens in England zur Zeit der Restauration als das Tagebuch von Pepys. Man sieht hier deutlich, welche Rolle die Musik im Hause eines intelligenten Londoner Bürgers spielte.

Samuel Pepys ist so bekannt, daß ich mich begnügen kann, die Hauptzüge seines Lebens zu erzählen. Er wurde in London 1633 als Sohn eines Schneiders geboren und gehörte zuerst dem Gefolge des Lords Montagu, Grafen von Sandwich, an. Nachdem er zunächst Demokrat und in Beziehungen zu Republikanern gewesen war, wurde er nach Cromwells Tode unter der Restauration Beamter im Finanzministerium und cUrc of the acts bei der Admiralität. Er behielt diesen Posten bis 1673 und erwies der englischen Marine wichtige Dienste, indem er mit Umsicht und Energie Ordnung, Sparsamkeit und Disziplin während der kritischen Periode der großen Pest, der Feuersbrunst in London und des Kriegs mit Holland wiederherstellte. Der Großadmiral, Herzog von York, der spätere Jakob IL, schätzte ihn sehr. Zur Zeit der Papisten- verschwörung wurde er mitbeschuldigt, katholischer Gesin- nung angeklagt und in den Tower geschickt. Doch konnte er sich rechtfertigen und trat aufs neue in die Dienste des Marineministeriums. Erblieb bis 1688 Sekretär der Admiralität, sehr begünstigt von Jakob IL, und zog sich erst nach der Ver- treibung der Stuarts von der Verwaltung zurück; aber seine Regsamkeit erlosch erst mit seinem 1703 erfolgten Tode. Er hörte nicht auf, sich für Literatur, Künste und Wissenschaft zu interessieren. 1684 wurde er zum Präsidenten der Royal Society ernannt. Er war Mitarbeiter an zahlreichen wissen- schafthchen Werken. Die Sammlung seiner Manuskripte findet sich im Magdalen College zu Cambridge: Memoiren, Stiche, Dokumente über das Marinewesen, fünf Bände einer von ihm veranstalteten Sammlung alter englischer Balladen und endlich

3 Kolland, Musikali3che Reise OO

sein Tagebuch, in dem er in einer von ihm erfundenen Kurz- schrift Tag für Tag alles aufgezeichnet hat, was ihm begegnet war, vom Januar 1659 (1660) bis zum Mai 1669. Dieses Tage- buch ist, neben dem seines Freundes Evelyn, die lebendigste Quelle für das Leben im damaligen England. Ich hebe die Notizen, die sich auf Musik beziehen, heraus.

Dieser Marineminister, dieser gewissenhafte Staatsmann war ein leidenschaftlicher Musikliebhaber; er widmete der Musik einen großen Teil seiner Zeit. Er spielte Laute, Viola, Theorbe, Flageolett, recorder^^ und ein wenig Spinett. Bei vornehmen Bürgersleuten war es Sitte, eine Instrumentensammlung zu besitzen, darunter einen Kasten mit sechs Violinen, um Kon- zerte geben zu können. Pepys besaß sein kleines Museum von Instrumenten; er rühmte sie als die besten in England, und er konnte fast alle handhaben. Seine größte Freude bil- deten der Gesang und das Flageolett. Überallhin nahm er dies Flageolett mit, auf den Spaziergang, in die Wirtsstube:

Swan und ich gingen in eine Taverne, und während er schrieb, spielte ich mein Flageolett, bis das Eiergericht fertig war. 2* Zu Schiff zurück, indem ich mein Flageolett spielte. ^^ Abends im Garten, lange bei Mondenschein Flageolett gespielt. 2^ Er versuchte sich auch in der Komposition:

Ich habe ein paar Weisen komponiert, was Gott mir verzeihen möge.^' Diese Kompositionen hatten dank seiner hohen Stellung sogar viel Erfolg in der Gesellschaft, worüber Pepys „nicht wenig stolz war".^^

Schließlich kam er zu der Überzeugung, daß seine Arbeiten hervorragend wären:

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Downing, der Musik versteht und liebt, wollte durch- aus meine Weise von der „Schönheit" haben und stellt sie über alles, was er jemals gehört hat; ohne mir etwas einzubilden, weiß ich, daß sie gut ist.^» Gewissenhaft probt er seine Arien mit den Sängerinnen:

Nach Tische brachte ich der Knipp mein neues Rezitativ bei, von dem sie schon ein gut Teil gelernt hat; es ge- fällt mir wohl, und ich glaube, ich werde zufrieden sein, wenn sie es erst ordentlich kann und es gefällig wirkt. ^^ Da er im übrigen ein großer Herr ist, nimmt er sich nicht die Mühe, seine Bässe selbst zu schreiben, sondern läßt das von andern besorgen:

Den Hoforganisten, Herrn Hingston, getroffen. Ihn ins Wirtshaus „Zum Hund" geführt und ihn dort einen Baß für mich schreiben lassen, der, glaube ich, gut sein wird. Naiv fügt er hinzu:

Er rühmt die Romanze sehr, ohne allerdings die Worte zu kennen, und sagt, die Melodie sei gut: er glaubt, daß sie die Worte deutlich ausdrücke. ^^

Dr. Ghilde kam zum Rendezvous und blieb den ganzen Morgen mit mir, um mir einige Bässe zu den Weisen zu machen, um die ich ihn gebeten hatte. ^^ Er interessierte sich auch für Musiktheorie:

Saß in meinem Zimmer bei einem guten Feuer; ver- brachte eine Stunde mit der Einführung in die Musik von Morley, einem sehr guten Buch, aber ohne Methode.^'

Zu Fuß nach Woolwich gegangen, den ganzen Weg die Einführung in die Musik von Playford gelesen, wo sich einiges Hübsche findet.^*

In Duck Lane gewesen, um den Marsanne^^ in Fran- zösisch zu holen. Dieser Mann hat sehr gut über Musik

3* 35

geschrieben, aber man kann sich das Buch hier nicht verschaffen, so habe ich es mir bestellt und die Abhand- lung über die Musik von Descartes gekauft. ^^

Der Page hat mir das Buch über die Musik von Des- cartes vorgelesen, aber ich verstehe es nicht, und ich glaube, derjenige, der es schrieb, hat es auch nicht ver- standen, obgleich er ein sehr gelehrter Mann war.^' Er setzte es sich in den Kopf, seine eigenen Gedanken über Musik niederzuschreiben. Wenn man ihm glauben darf, waren sie außerordentlich, und er hatte den Stein der Weisen im Reich des Klanges gefunden.

Ich habe mit Mr. Banister ein sehr angenehmes Ge- spräch über Musik gehabt, das mich in einigen meiner neuen Ideen bestärkte, so daß sich die Absicht in mir formt, einen Grundriß über musikalische Theorie zu schreiben, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.^* Ließ Tom ein paar kleine Konzerte niederschreiben und einige eigene Ideen über Musik; das ermutigt mich sehr, mich der Sache mehr zu widmen, denn ich glaube, und ich habe gute Gründe es zu glauben, daß ich auf dem besten Wege bin, ihre Geheimnisse zu entschleiern.^^ Man halte ihn nicht für einen Narren. Seine Ehrlichkeit und seine jugendliche Hingabe an die Musik sind bestrickend. Er liebt sie zu sehr. Er hat Angst vor ihr:

Ein wenig Viola gespielt, was ich schon lange nicht tat, da ich kein Instrument berührte; schließlich habe ich aufgehört und bin ein wenig in meinem Amt gewesen, denn ich hatte Angst, daß ich mich zu sehr an die Musik hingeben und in meine frühere Narrheit zurückverfallen könnte, die mich alle übrigen PfHchten vernachlässigen ließ.^0 Es nützt aber nichts. Die Musik ist die Stärkere.

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Gott verzeihe mir! Ich merke immer mehr, daß ich meine Natur nicht besiegen kann, der das Vergnügen über alles geht, obgleich ich mich inmitten dieses Ver- gnügens meiner Geschäfte erinnere, die ich vernach- lässige. Aber wenn es sich um Musik handelt, oder um Frauen, so kann ich nichts als nachgeben, was immer meine Obliegenheiten auch sein mögen. ^^ Er empfindet Musik so stark, daß er mitunter krank davon wird:

Im Königlichen Theater gewesen, um die „Jungfräuliche Märtyrerin" *2 2u sehen . . . Was mir am besten auf der Welt gefällt, das ist die Musik der Blasinstrumente, wenn der Engel niedersteigt; sie ist so herrlich, daß sie mich in Ekstase versetzt; und sie hat mich derart hin- gerissen, daß sie mich ganz krank gemacht hat, wie früher, als ich in meine Frau verliebt war. Den ganzen Abend konnte ich daheim an nichts anderes denken, und ich bin die ganze Nacht über so völlig benommen von ihr gewesen, daß ich mir nicht denken kann, die Musik könne über die Seele irgendeines Menschen so viel Macht haben wie über die meine. *^ Die Musik ist sein Trost, wenn er traurig ist:

Heute nacht daheim Flageolett gespielt. Ich war traurig, aber es macht mir Freude zu denken, daß ich mein Leben, wenn es Gott mir schenkt, einfach und behaglich auf dem Lande zubringen will, wenn auch ohne Ruhm zu ernten.*^

Obgleich ich noch immer traurig war, wenn ich an

meinen armen Bruder dachte (der am Tage vorher

gestorben war), so gab ich doch meiner Lust nach,

Klavier zu spielen.*^

Man muß allerdings zugeben, daß Pepys es nicht oft nötig

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hatte, diesen Trost zu suchen; denn er war selten traurig. Die Musik stellte sich ihm weit öfter als ungemischte Freude dar, die vollkommenste des Lebens:

Ich denke darüber nach, daß die Musik die ganze Freude ist, die ich auf der Welt habe, die größte, die ich je er- hoffen darf, und das Beste meines Lebens.^® Rings um ihn muß alles seine musikalische Manie teilen. Seine Frau zuerst.

Er hatte sie 1655 geheiratet, als sie erst fünfzehn Jahre alt war; er zählte dreiundzwanzig. Er setzte es sich in den Kopf, sie singen zu lehren, und solange er in sie verliebt war, fand er sie ,, unbeschreiblich begabt"^'. Die ersten Lektionen gingen sehr gut vonstatten; Lehrer und Schülerin waren voller Eifer.

Lange aufgeblieben, meiner Frau ihre Musikstunde gegeben.*^

Nach Hause gekommen, um mich meiner Musik zu widmen. Meine Frau und ich sangen lange zusammen in meinem Zimmer.*^ Es handelte sich nur um einfache Lieder. Aber als Frau Pepys sah, daß ihr Mann sich einen Gesanglehrer für italie- nische Musik nahm, wurde sie von Ehrgeiz gepackt und wollte nicht zurückstehen.

Heute früh sind meine Frau und ich lange im Bett geblieben, und unter anderm sind wir auf Musik zu sprechen gekommen. Sie bat mich, sie Gesangstunde nehmen zu lassen, was ich in Erwägung zog, und ich habe es ihr versprochen. Gerade als ich noch zu Bett war, meldete man mir meinen Gesanglehrer, Mr. Good- groom, der zu meiner Stunde gekommen war, da stand meine Frau auf und begann an diesem Morgen singen zu lernen.^"

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So studiert sie nun große italienische und französische Arien, was recht unvorsichtig war. Pepys möchte sich gern täuschen, aber muß schließHch doch erkennen, daß seine Frau nur geringe Anlagen hat:

Mit meiner Frau gesungen, die kürzlich^^ zu lernen

begann und, wie ich hoffe, es auch zu etwas bringen

wird ; aber leider hat sie kein gutes Gehör, und ich, leider

muß ich es gestehen, bin nicht geduldig genug, um mit

ihr zu lernen und sie zeitweise eine falsche Note singen

zu hören. Ich bin sehr zu tadeln, daß ich bei ihr nicht

ertrage, was zu ertragen doch natürlich wäre, da sie

eine Anfängerin ist und ich es sehr wünsche, daß sie

singen lernt. Ich sollte sie ermutigen. Ich bin betrübt;

ich merke, daß ich sie entmutige und ihr Angst mache,

vor mir zu singen, ^^

Pepys war um so berechtigter, zu finden, daß seine Frau

falsch sang, als er in seinem eigenen Hause Vergleiche ziehen

konnte, die nicht zum Vorteile der Frau Pepys ausfielen.

Es w^ar eine Sitte der Zeit, Gesinde mit schöngeistigen Talenten

zu haben; in allen mit Pepys bekannten Familien hatte man

musikalische Dienstboten, die oft wahre Künstler waren. Der

Haushofmeister der Mylady Wright, Evans, spielte die Laute

mit Vollendung und gab Pepys Lektionen. ^^ Die Frau des

Kammerdieners bei einem seiner Freunde, Mr. Dutton, sang

wundervoll.^* Pepys hatte den Ehrgeiz, daß seine Diener

gleichfalls Virtuosen sein sollten; als guter, nicht ganz

uninteressierter Ehemann hielt er darauf, daß seine Frau

Dienerinnen hatte, die angenehm zu sehen und zu hören

waren.

Da war zuerst eine reizende Kammerzofe, die Ashwell, die Klavier spielte. Pepys kaufte ihr Noten und unterrichtete sie in den Grundzügen ihrer Kunst:

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Auf mein Zimmer gegangen, um der Ashwell die Grundsätze des Taktes und einiges andere beizubringen. Ließ sie einen Psalm einstudieren; sehr gut, denn sie hat ein gutes Gehör ^^, und Anschlag. ^^ Auch tanzen muß die kleine Dienerin:

Nach Tische den ganzen Nachmittag Geige gespielt, wozu die Ashwell tanzte in meinem schönen Zimmer oben, das ein ungewöhnlich geeignetes Musikzimmer ist.^' Aber die Ashwell genügt Pepys bald nicht mehr. Naiv schreibt er:

Ich bin im Begriff, eine Kammerfrau für meine Gattin

zu suchen, die nach meinem Geschmack ist und besonders

eine, die etwas von Musik versteht, namentlich vom

Gesang.^^

Endlich fängt er das seltene Vögelchen; es heißt Mercer.

Zur selben Zeit nimmt er einen kleinen musikalischen Pagen

ins Haus, den ihm sein Freund, Kapitän Cooke, geschickt

hatte, welcher Königlicher Kapellmeister war und unter dessen

Leitung der Page seit vier Jahren stand. ^^ Somit ist Pepys

auf dem Gipfel der Sehgkeit angelangt.

Daheim mit meiner Frau, der Mercer, dem Pagen bis elf Uhr gewacht bei Gesang und Geigenspiel. Es ist ein großes Glück für mich, Herr über soviel Vergnügen in meinem eigenen Hause zu sein, so daß es für mich immer eine Freude sein wird, daheim zu bleiben. Das junge Mädchen spielt ganz hübsch Klavier, aber nur leichte Stücke; doch hat sie guten Anschlag, auch Gehör und Stimme sind gut. Mein Page, ein netter Junge, singt sehr hübsch; bis jetzt ist er das angenehmste Bürschchen von der Welt.^° Allein er wird des Pagen bald überdrüssig. ^^ Die Mercer dagegen gewinnt an Reiz von Tag zu Tag.

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-/ ./Äei^W.:^?'« ^*^f^^

ELIZABETH PEPYS

Fand die Mercer Viola spielend; da begann auch ich zu spielen und zu sirigen bis spät in die Nacht. ^^

Gegen elf Uhr abends bei schönem Mondenschein mit meiner Frau und der Mercer in den Garten gegangen und bis Mitternacht gesungen. Es war eine große Freude für uns und auch für die Nachbarn, die ihre Fenster öffneten.®^

Nach dem Abendessen mit der Mercer gesungen und weil es mir Vergnügen machte, sie ein Lied von Lawes singen zu hören, bis Mitternacht aufgeblieben.^* Die arme Frau Pepys ist indessen betrübt.

Heimkehrend meine Frau sichtlich unzufrieden ge- funden, weil ich soviel Zeit mit der Mercer verbringe und sie singen lehre, welche Mühe ich mir bei meiner Frau nicht nahm, was nicht zu leugnen ist. Aber es ge- schieht nur, weil dieses Mädchen erstaunliche musika- Hsche Anlagen hat; und Musik ist mir das Liebste auf Erden . . .^^ Es scheint, daß die Mercer für einige Zeit entfernt wird, aber Frau Pepys gewinnt nicht viel dabei. Pepys wird melancho- lisch.®® Er findet, daß seine Frau miserabel singt. Die Mercer muß zurückkehren, die Gesangsstunden beginnen aufs neue und auch leider Frau Pepys' Eifersucht.

Da ein wenig Mondschein war, in den Garten mit der

Mercer gegangen und gesungen, bis meine Frau mich

erinnerte, daß heute Fasttag ist®^ ; das hat mich geärgert,

und ich habe aufgehört.®^

Nun macht sich Frau Pepys leidenschaftlich daran, Musik

zu treiben, und beinahe gelingt es ihr, den Triller zu erlernen.

Ihr Mann erkennt großmütig ihre guten Absichten an:

Nach Tische begannen meine Frau und die Barker®^ zu singen. Meine Frau gibt sich sehr viel Mühe und ist

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sehr stolz, weil sie hofft, bald trillern zu können. Ich glaube wirklich, daß es ihr gelingen wird.'" Aber in dieser argen Welt wird die Tugend nicht belohnt, und die „arme Kleine", wie Pepys sie nennt, bringt es doch nicht fertig, richtig zu singen.

Vor Tische meine Frau singen lassen. Arme Kleine! Sie hat so wenig Gehör, daß ich zornig geworden bin und die arme Kleine zu weinen angefangen hat. Ich nehme mir vor, sie ein andermal nicht so zu entmutigen, denn sie wünscht so sehr, etwas zu lernen, um mir Freude zu machen; ich habe also sehr unrecht, ihr den Mut zu benehmen.'^ Eine Zeitlang übt sich Pepys in der Geduld:

Mit der Zeit wird sie, hoffe ich, trillern lernen. '^ Ließ sie singen; es ging besser, als ich hoffte.'^ Wirklich scheint sich ihr Gehör zu bessern; das freut mich aus Herzensgrund.'* Aber all diese Anerkennung spricht mehr für Pepys' braves Herz als für das Talent seiner Frau. Als er eines Tages eine miserable Sängerin hört, „eine musikalische Idiotin, unfähig einen Ton rein zu singen", entschlüpft ihm das Geständnis: Sie singt noch schlechter als meine Frau, und das ver- söhnt mich ein wenig mit dieser.'^ Die wackere und verzweifelte kleine Frau Pepys macht sich nun über das Flageolett her. Pepys ermutigt sie ; vielleicht wird sie hier weniger falsche Töne hervorbringen. Er verhandelt ihretwegen mit einem Professor Greeting und lernt mit, um ihr Mut zu machen'^:

Flageolett mit meiner Frau studiert und mit Vergnügen bemerkt, daß sie die Töne leicht findet."

Eine Stunde im Garten spaziert und mit meiner Frau geplaudert, deren musikalische Entwicklung anfängt, mir große Freude zu machen.'^

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Beim Abendessen hat meine Frau Flageolett gespielt, und zwar eine eigene Weise so hübsch, daß ich ganz ent- zückt war, mehr, als ich ihr je zutraute.''^

Einen Teil der Nacht mit meiner Frau beim Flageolett

verbracht. Sie spielt jetzt alles fast vom Blatt weg und

im Takt ... Ich bin sehr zufrieden schlafen gegangen,

weil meine Frau so hübsch Flageolett spielt; ich will sie

noch ein andres Instrument lernen lassen; denn obwohl

sie kein gutes Gehör hat, merke ich, daß sie alles erreichen

wird, wozu man leichte Finger braucht.^"

Von da ab ist Pepys' Ehe eine glückliche. Abends läßt er

seine Frau Flageolett spielen, „bis er mit großem Vergnügen,

in seinem Bett, einschläft"^^.

Aber man glaube ja nicht, daß er darüber seine liebe Mercer vergessen habe. Er hält auch weiter mit ihr musikalische Übungsstunden ab , besonders wenn seine Frau nicht da ist. Gegen neun Uhr abends im Garten die Stimmen der Mercer und meines Pagen Tom singen gehört ... Ich starb fast vor Sehnsucht, das Mädchen wiederzusehen, da sie mir seit der Abreise meiner Frau nicht mehr be- gegnet war. Ich suchte sie im Garten auf, wir sangen zusammen, dann aßen wir daheim Abendbrot. War entzückt von ihrer Gesellschaft, sowohl von ihrem Ge- spräch als von ihrem Gesang. ^^

Die Mercer ins York-Theater geführt, den „Sturm" an- sehen . . . Nach der Vorstellung die Mercer zu Schiff nach Spring Garden geführt. Dort sehr vergnügt spazieren- gegangen, gegessen, getrunken, gesungen. Die Leute scharten sich um uns, uns zu hören. ^^

Zu Wasser nach Foxhall . . . Die Nacht sank herab, wir setzten uns in eine Ecke und sangen, so daß alle Leute kamen, uns zu hören.®*

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Die Mercer geholt. Sie und ich im Garten bis zehn Uhr gesungen. ^^

Lustige Gesellschaft. Die Mercer ist dabei. Nach dem Essen Psalmen gesungen . . .^^ Und so weiter.

Dabei rede ich nicht von der andern Dienerin, Barker, „die als Sängerin noch viel besser ist"^'.

Rings um dieses musikalische Haus ist alles musikalisch; die Verwandten, Bruder und Schwägerin, die ausgezeichnet Baßgeige spielen^^; die Freunde, die alle gute und schlechte Musik machen. Die Damen spielen Laute, Viola, Klavier, oft mit so viel Ausdauer, daß sie die Gesellschaft ermüden:

Herrn Turners Tochter spielte Klavier, daß mir übel wurde. ^^

Ich ging ohne Abschied weg, und kein Mensch blieb, bei ihr, der zuhörte.^" Alle großen Herren singen und spielen.^^ Pepys' Protektor, Lord Sandwich, ist sein Partner in kleinen Kammerkonzerten^^ und komponiert dreistimmige Antiphonien.^^ Man kann nir- gends hingehen, ohne Musik zu hören. Im Wirtshaus:

Führte meine Frau in die Tuchmacherhalle ... Sehr gutes Essen, schöner Saal, gute Gesellschaft, sehr gute Musik. An seiner Stimme erkannte ich zu meinem Vergnügen einen Mann, den ich nie gesehen und der seinerzeit in der Oper des Sir Davenant hinter der Szene sang.^* Beim Spazierengehen:

Promenierte im Spring Garden. Viele Leute, Wetter und Garten angenehm. Es ist sehr unterhaltlich, bald die Nachtigall und andere Vögel zu hören und bald Geigen oder eine Harfe. ^^ Auf dem Lande:

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Etwas weiter weg saß im Grase unter einem Baum eine Gesellschaft, die sang. Ich ritt in ihre Nähe und sah, daß es Bürgersleute waren, die sich offenbar zufällig getroffen hatten und nun ausgezeichnet vier- und fünf- stimmig sangen. Ich war kaum jemals entzückter von Musik als unter diesen Umständen.^® In den Bädern von Bath, wo, wie es scheint, die Musik zur Kur gehört:

Nachdem ich zwei Stunden im Wasser gewesen, habe ich mich daheim niedergelegt und transpiriert, eine Stunde lang, da kamen Musiker, um mir sehr gute Musik vor- zuspielen, so gut wie irgendeine, die ich jemals in London gehört.^' Zur See auf einer Reise, die er macht, um Karl II. zu holen :

Ein Matrose ein Trunkenbold und wie ein Bauer anzusehen spielt Harfe, wie ich vielleicht bis zu meinem Ende nicht spielen hören werde. ®^ Beim Haarschneider:

Zu unserer Bedienung ein Barbier, der sehr gut Geige spielt.99 Im Londoner Volk:

Zu Pepys kommt ,,ein Goldschmiedearbeiter, ein armer Teufel, ein ganz kleiner Kerl, der keine Handschuhe trägt". Aber er füllt seinen Platz in einem Vokalquartett mit Pepys und dessen Freunden vortrefflich aus.i°°

Natürlich spielt das Theater eine große Rolle im Leben dieses Musikfanatikers. Zwar hat Pepys sich eine Zeitlang vor- genommen, es nur einmal monatlich zu besuchen, um sich seinen Geschäften nicht zu entfremden, und auch aus Spar- samkeit.^"^ Aber er wartet nicht den zweiten Tag des Mo- nats ab:

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1. Februar 1664. Heute ist ein neuer Monat, da kann ich ins Theater gehen. Wenn man seine Aufzeichnungen durchliest, sieht man, wie rasch sein Vorsatz übertreten wird.

Hat er nun auch beschlossen, nicht öfter als einmal monat- lich ins Theater zu gehen, so hat er sich's doch nicht unter- sagt, sich das Theater nach Hause kommen zu lassen, das heißt, die Theaterleute, besonders wenn es junge hübsche Sängerinnen sind, wie Mrs. Knipp, Sängerin am Königlichen Theater „diese kleine Schelmin . . ."^^^ „Knipp, die sehr niedlich ist, ein tolles Geschöpfchen und die so nobel singt, . wie ich es mein Lebtag nicht gehört habe".^''^ Er ver- bringt Nächte damit, sie Lieder singen zu hören, die ihm bewunderungswürdig scheinen. i°* Sie spielt ihm ihre Rollen vor. Sie sucht ihn im Parterre des Theaters auf, ,,nach ihrer Wolkenarie" ^"^. Er führt sie nach Kensington spazieren, und sie singt.

Schöne Damen hörten uns zu . . . Wir waren unendlich lustig. Sangen den ganzen Weg lang, bis wir in die Stadt kamen.i°^ Was für schöne Abende, die Pepys bei sich zu Hause mit liebenswürdigen Musikantinnen gab: seiner Frau, den Diene- rinnen seiner Frau, den Freundinnen seiner Frau und den reizenden Theaterdamen! Auch die Knipp kommt manchmal hin, im Theaterkostüm, „als Bäuerin im Strohhut" i°'.

Jetzt ist mein Haus ganz voll . . . Vier gute Geigen . . . Wir haben gesungen, dann getanzt, dann dreistimmig gesungen. Die Harris vom Duke Theatre hat ein irisches Lied gesungen, das seltsamste und hübscheste, das ich je von ihr gehört . . . Sangen und tanzten weiter. Unsere Mercer hat eine italienische Arie gesungen, die mich be- geistert hat , .1°^' Die Knipp und Rolt sangen gute alte

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englische Weisen, und ich hatte unendliches Vergnügen am Zuhören . . .^°^ Ich verbrachte die Nacht in einem Entzücken , . . Es war die beste musikalische Gesell- schaft, in der ich mich je befunden; ich möchte in ihr leben und sterben, und zwar wegen der Musik, aber auch wegen der Gesichter von meiner Frau und von der Knipp . . .^^° Pepys schwelgt in seinem Glück; nachts, auf seinem Kopf- kissen, ruft er sich die köstlichen Abende zurück:

Ich bin mir klar, daß diese Freude eine der besten ist, die ich auf dieser Erde erwarten kdnn:*^ Nur eine Wolke beschattet sein^jf^immel: die Musik ist kostspielig. Am Schluß der Schilderung eines zauberischen Abends folgt die Anmerkung:

Nur die Musikanten haben mich geärgert; sie waren

nicht mit weniger als 30 Schilling zufrieden.^^^

Pepys zahlt nicht gern. Darin ähnelt er vielen reichen

Amateuren seiner und unserer Zeit. Nichts ärgert ihn so,

als wenn er» einem Künstler Geld geben soll; naiv gesteht er

es ein:

Mr. Berkenshaw hat meine zweiteilige Arie fertig ge- macht, die mir sehr gefällt. Ich habe ihm fünf Pfund Sterling für diesen Monat gegeben, d. h. für seine Lek- tionen in fünf Wochen. Das ist viel Geld, und ich ärgerte mich, daß ich es zahlen mußte. ^^^ Auch weiß er es einzurichten, daß er sich mit seinem Lehrer überwirft, aber so, als ob der Bruch von der Seite des andern käme, sobald er alles aus ihm herausgezogen hat, was er braucht.i^* Als Mr. Berkenshaw darauf hereingefallen ist und mit Pepys gebrochen hat, ergötzt sich dieser an den Weisen, die er während der Stunden vorsichtig aus Mr. Berkenshaw herausgeholt hat:

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Ich finde sie ganz unvergleichlich und bin nicht wenig stolz darauf: denn ich bin sicher, niemand auf der Welt besitzt sie, außer mir; nicht einmal er, der sie geschrieben hat.115

Wenn es seine Börse gegen Künstler zu verteidigen gilt, ist er klug wie die Schlangen. Ein Geiger kommt zu ihm und spielt ihm „einige sehr schöne Stücke seiner Erfindung" vor. Pepys hütet sich wohl, ihn zu sehr zu rühmen:

Ich hatte Angst, ihn zu viel zu loben, damit er mir nicht etwa anbiete, diese Musikstücke für mich abzu- schreiben: denn dann wäre ich gezwungen gewesen, ihm etwas zu schenken oder zu borgen. ^^^ Kein Wunder, daß Pepys unter diesen Umständen die Musik für die wenigst kostspielige aller Künste hält^^'. Kein Wunder auch, daß die Künstler Hungers sterben in diesem England, wo jeder sich für einen leidenschaftlichen Musikfreund erklärt. Es ist wie bei Gauklern, die sich vor Bauern produzieren. Die Bauern sehen zu, unterhalten sich und nehmen Reiß- aus, wenn es ans Zahlen geht. ,

Mr. Kingston, der Hoforganist, sagt mir, daß eine große Anzahl Musiker nahe daran sei, Hungers zu sterben, da man ihnen seit fünf Jahren kein Gehalt ausgezahlt hat; sogar Evans, der berühmte Harfenvirtuose, der seines- gleichen auf der Welt nicht hatte, soll neulich aus Not zugrunde gegangen sein und ist auf Gemeindekosten be- erdigt worden. Er wäre des Nachts, ohne eine einzige Fackel, zu Grabe getragen worden, wenn nicht Mr. Hingston zufällig dem Leichenzug begegnet wäre und zwölf Pence hergegeben hätte, um zwei oder drei Fackeln zu kaufen.^^^

Dies alles klärt uns bereits darüber auf, wie wenig tief bei den Engländern der Musiksinn sitzt. Wir werden sie noch besser

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erkennen, wenn wir versuchen wollen, den musikalischen Ur- teilen Pepys nachzugehen und die Grenzen seines Geschmacks festzustellen. Sie sind wahrlich eng gezogen!

Pepys liebt den Gesang nach alter Art nicht.^*^ Er mag keinen mehrstimmigen Gesang:

Ich überzeuge mich mehr und mehr, daß mehrstim- miger Gesang kein Gesang ist, sondern eine Art Instru- mentalmusik, weil sich der Sinn der Worte, die man nicht versteht, verliert und besonders, weil man sie fugiert. Nach meiner Meinung ist der wahre Gesang nur der ein-, höchstens zweistimmige. ^^o Die italienischen Meister mag er auch nicht:

Sie haben den ganzen Abend über das beste Musikstück der Welt gesungen, wie alle behaupten, ein Stück von Ca- rissimi, dem berühmten römischen Meister ; es war schön, sicherlich, zu schön, als daß ich es beurteilen könnte. ^^^ War gar nicht begeistert von dieser Musik, von der ich Außerordentliches erwartete . . . Ich muß anerkennen, daß es eine sehr gute Musik ist, ich meine, daß die Kom- position außerordentlich ist; dennoch gefällt sie mir nicht.122

Er liebt die italienischen Sänger nicht; am meisten haßt er die Stimmen der Kastraten, Er anerkennt nur die rhyth- mische Sicherheit und die ungewöhnliche Übung dieser Künst- ler, aber sie bleiben seinem Geschmack fremd, und er bemüht sich nicht, sie zu verstehen. ^^^

Noch weniger liebt er die moderne englische Schule, die von Cooke, aus der Pelham Humphrey, Wise, Blow und Purcell hervorgehen sollten:

Als Ausführung und Komposition stand es wirklich noch unter dem, was ich den Abend vorher gehört hatte^^*, ich hätte das nicht erwartet.^^^

4 Rolland, Musikalisclie Reise 49

Er hat auch nicht mehr Vorliebe für französische Tonkunst: Ohne parteiisch zu sein, finde ich nichts in ihren Melo- dien, das besser wäre als bei uns. Mir fiel das bei einigen Violinstücken von Baptiste (Lully), dem großen modernen Komponisten, auf, wenn ich sie mit denen von Banister vergleiche. ^^^ Er kann die französische Musik von Grebus (Grabu), dem Meister Karls IL, nicht leiden:

Gott verzeih mir! Noch nie im Leben war ich von einem Konzert so wenig befriedigt I^^' Mit einem Wort, die ganze Instrumentalmusik langweilt ihn: Ich muß gestehen: sei es, weil ich wenig davon höre, sei es, weil die menschliche Stimme mehr taugt, ich finde nicht das geringste Vergnügen daran: nach meiner Mei- nung wiegen zwei Stimmen zwanzig Instrumente auf.^^^ Wenn er so viel ausschließt: was bleibt denn übrig? Er sagt es selbst: eine Stimme, höchstens zwei, begleitet oder auch nicht von der Laute, der Theorbe, der Viola. Und was sollen diese Stimmen singen? Einfache Lieder, hübsch dekla- miert, wie die von Lawes, dem Beherrscher der musikalischen Mode, dessen Namen man am öftesten in dem Tagebuch be- gegnet.^2* Im Theater scheint Pepys die Musik Locks am meisten geliebt zu haben, mit dem er in persönlicher Verbin- dung ständig" und der 1668 die Bühnenmusik für Massingers „Jungfräuliche Märtyrerin" schrieb,' die ihn krank vor Freude gemacht hatte. Auch in der Kirche zieht er Lock vor^^^ und die vierstimmigen Psalmen von Ravenscroft, obgleich sie ihm recht eintönig scheinen^^^^

Aber das, was ihm im Grunde am besten gefällt, das sind die guten alten englischen Weisen.

Mrs. Manuel singt erstaunhch gut, ganz im italie- nischen Stil. Trotz alledem gefällt sie mir nicht so gut

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wie die Knipp, wenn diese ein gutes altes englisches Lied singt.*^^

Mrs. Manuel singt gut; dennoch gestehe ich, daß ich

nicht entzückt genug bin, um sie zu bewundern . . .

Es macht mir mehr Freude, die Knipp zwei oder drei

englische Liedchen singen zu hören, die ich verstehe

obgleich Erfindung und Ausführung der andern schön

sind.i^*

Überdies müssen diese englischen Lieder auch ganz streng

englisch sein. Pepys anerkennt nicht einmal schottische

Weisen:

Ein Diener Lord Lauderdales spielt auf der Geige schottische Weisen, offenbar die besten des Landes, nach dem Lob und der Bewunderung zu schließen, die sie erregen. Aber lieber Himmel! Es sind die sonder- barsten Sachen, die ich mein Lebtag gehört habe. Alle im gleichen Stil!^^^ Wie man sieht, schrumpft die Musik für Pepys auf einen sehr kargen Umfang ein. Wie merkwürdig ist diese Musik- leidenschaft in Verbindung mit einem so ärmhchen Geschmack ! Dieser Geschmack hat nur eine gute Eigenschaft: seine Ehr- lichkeit. Pepys will sich nicht besser machen, als er ist. Er sagt aufrichtig, was er denkt; er hat das gesunde englische Mißtrauen gegen unbändigen Enthusiasmus. Auffallend ist das instinktive Mißtrauen, das er für italienische Musik hat, die langsam anfängt, England zu überfluten. Als er sie bei Lord Bruncker, einem der Londoner Beschützer italienischer Kunst, zu hören bekommt, schreibt er:

Sie haben wohl gut gesungen; aber in einem Lied kommt es auf die Worte an und wie die Musik sie ver- tont; die Sprache des Landes und ihr Akzent muß dem Hörer verständlich und vertraut sein; sonst wird man

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die Vokalmusik eines fremden Landes nie richtig be- urteilen können. Da ich die Worte nicht verstand und das Italienische nicht gewohnt bin, war ich von dieser Musik auch gar nicht eingenommen; ihr Rhythmus, die Art, die Stimmen zu erheben und zu senken, mag einem Italiener gefallen, aber mir hat es nichts gesagt. In meinem Innern fühle ich, daß ich englische Worte auf eine Art komponieren könnte, die den geübtesten eng- lischen Ohren besser zusagt als diese ganze italienische Musik . . .136

Ich überzeuge mich mehr und mehr, daß jede Nation einen Akzent und Sprechton hat, die denen der an- deren Länder nicht gleich sind und ihnen nicht gefallen, darum muß auch der Gesang ein anderer sein. Je mehr die Musik den Worten entspricht, desto mehr hat sie die Intonation der eigenen Sprache: so daß ein von einem Engländer komponiertes Lied dem Engländer immer besser erscheinen muß als ein Lied in einer fremden Sprache von einem Ausländer.^^^ Das ist sehr vernünftig und erinnert an das, was Addison fünfzig Jahre später schrieb. Dieses gesunde Mißtrauen hätte die englischen Musiker und Dilettanten wachsam gegen die Nachahmung fremder Kunst machen müssen, nament- lich gegen die der italienischen, die tödlich für die englische Musik werden sollte. Aber die italienische Kunst war sehr stark, und man hat eben gesehen, in welch engen Grenzen sich der enghsche Geschmack bewegte. So räumte er fast den gesamten Platz der fremden Kunst ein und zog sich auf sein enges Gebiet zurück, ein Fehler sondergleichen. Sobald sich die ausländische Musik einmal in England festgesetzt hatte, suchte sie alles zu erobern. Einige Notizen Pepys' zeigen, daß auch er schon schwankend wird:

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In der Kapelle der Königin. Hörte die Italiener singen. Ihre Musik schien mir wirklich bewunderungs- würdig und alles übertreffend, was wir hier machen.i^s Das ist ein Geständnis der baldigen Niederlage, in der die englische Musik zugunsten der Italiener abdanken sollte.

Ich habe ziemlich lange bei diesem Tagebuch eines englischen Musikliebhabers aus der Zeit Karls II. verweilt. Nicht nur wegen des Vergnügens, einige liebenswürdige Typen wieder auf- leben zu lassen, die sich in den zwei Jahrhunderten nicht all- zusehr verändert haben der vornehme Engländer, Künstler und Staatsmann, gesund an Leib und Seele, schaffensfreudig, stets besonnen, guter Laune, voll heiterer Ruhe und mit jenem etwas kindUchen Optimismus, wie man ihn so oft auf der andern Seite des Kanals findet, musikalisch angenehm begabt, aber oberflächlich, die Musik nach Miltons Rat^^^ mehr als hygienisches Vergnügen betrachtend, denn als eine Leidenschaft, über die man die Herrschaft verlieren könnte; und um ihn herum andere bekannte Gestalten: Frau Pepys, die Engländerin, die musikalisch sein will, die mit Ausdauer Klavier spielt und „guten Anschlag hat". Und noch manche andere . . .

Aber nicht deswegen allein habe ich Auszüge aus diesem Tagebuch gemacht. Es hat das historische Interesse, daß es ein Gradmesser des engUschen Musikwesens um 1660 ist, das heißt am Beginn des goldenen Zeitalters britischer Musik. Man begreift, daß dieses Zeitalter nicht dauern konnte. So glanz- voll, sogar genial die Musik in der Ära Purcells war, so hatte sie keine Wurzeln und namentlich keine Erde, ihre Wurzeln hineinzusenken. Das intelligenteste, gebildetste, kunst- liebendste Publikum Englands interessierte sich ernstlich nur für ein außerordentlich begrenztes musikalisches Gebiet, das

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auf der Dichtung ruhte, wie es aus ihr erwachsen war: ein- und zweistimmige vokale Kammermusik, Dialoge, Balladen, Tänze, poetische Gesänge. Quintessenz und Herzblut der eng- lischen Musik sind hier.i*"* Alle britische Musik, die national sein wollte, mußte sich daran halten, und in der Tat ist das Beste, was sie hervorgebracht hat, darunter einiges von dem liebenswürdigen Purcell, durchdrungen von diesem Duft einer zärtlichen Poesie und eines urwüchsigen Behagens. Aber diese Basis war etwas schmal, der Boden sehr wenig ertragreich für die Kunst; die Form einer solchen Musik ist einer großen Entwicklung nicht fähig, und die weit verbreitete aber ober- flächliche musikalische Kultur dieses Landes hätte eine solche auch nicht zugelassen.

Gegenüber dem engen Gebiet von Liedern und englischen Balladen, das sich fast unverändert bis in unsere Tage erhalten hat, sieht man in Pepys' Tagebuch die italienische Invasion drohen, die schließlich alles überfluten sollte.

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III.

Bildnis Händeis

HÄNDEL

Man nannte ihn den großen Bären. Er war riesenhaft, breit, dick, mit großen Händen, großen Füßen, ungeheuren Armen und Schenkeln. Seine Hände waren so fett, daß die Knochen im Fleisch verschwanden und Grübchen bildeten.^^^ Mit seinen krummen Beinen kam er schweren und wiegenden Ganges daher, sehr aufrecht, den Kopf zurückgebogen, unter einer großen weißen Perücke, deren Locken voll über seine Schultern fielen. Sein langes Gesicht hatte Ähnlichkeit mit dem eines Pferdes, später im Alter mit einem Stier und verschwamm in Fett, mit doppelten Wangen, dreifachem Kinn, einer breiten, großen, geraden Nase und roten, aufrechtstehenden Ohren. Er sah den Leuten direkt ins Gesicht, in dem festen Blick ein schelmisches Aufblitzen, einen spöttischen Zug um den großen feinen Mund.^*^ Seine Miene war imponierend und jovial zu- gleich, gewöhnlich ,, etwas finster und sauersehend. Wenn er aber einmal lächelte," sagt Burney, ,,so war es, wie die Sonne, die aus einer schwarzen Wolke hervorbricht. Aus seinen Zügen strahlten dann auf einmal Verstand, Witz und gute Laune."

Er steckte voll Humor. Er verstand, schelmisch eine Art Einfältigkeit vorzuschützen, über die die ernstesten Leute lachen mußten, ohne daß er selbst auch nur lächelte. Niemand er- zählte besser Anekdoten. ,,Sein natürlicher Hang zu Witz und Laune, und seine glückliche Gabe, die gemeinsten Vorfälle auf eine ungewöhnliche Art zu erzählen," gab ihnen eine amüsante Farbe. ,,Wäre er ein so großer Meister der englischen Sprache, wie Swift gewesen; so würde er ebenso viele witzige Einfälle, und ziemlich von eben dem Schlage, gehabt haben." Aber ,,um recht zu würdigen, was er sagte, mußte man nahezu vier Sprachen beherrschen: Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, die er alle miteinander vermengte". ^*^

An diesem Sprachenbabel trug ebenso seine unstete Jugend Schuld, die ihn durch alle Länder Europas geführt hatte, wie

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sein ungestümes Temperament, das im Gespräch jedes Wort ergriff, wie es ihm gerade kam. Er war wie Berlioz: die Noten- schrift ging zu langsam für ihn; er hätte einer Stenographie bedurft, um seinen Gedanken zu folgen. Zu Beginn seiner großen Chorwerke schrieb er die Motive für alle Stimmen voll- ständig aus; unterwegs ließ er eine nach der andern fallen, und schUeßhch behielt er eine einzige oder die Bässe allein; er raste geradezu bis an das Ende der begonnenen Arbeit, ver- schob die Ergänzung des Übrigen auf später, und wenn er mit einem Werke fertig war, fing er gleich ein neues an, manchmal zwei zugleich, mitunter auch drei.^^*

Nie hätte er Glucks Geduld besessen, der, bevor er zu schrei- ben begann, einen Akt nach dem andern sorgsam durchging, schließlich das ganze Stück, was, wie er zu Corancez sagte, „gewöhnlich ein volles Jahr kostete und nicht selten eine schwere Krankheit". Händel komponierte einen Akt, ohne die Fortsetzung des Stückes zu kennen, und mitunter rascher, als der Textdichter es fertig schreiben konnte^ *^.

Sein Schaffensdrang war so tyrannisch, daß er ihn schließ- lich von der übrigen Welt ganz isolierte. „Er ließ sich von keinem unbeträchtlichen Besuch stören," sagt Hawkins, „und in der Ungeduld, sich von den Gedanken frei zu schreiben, die sein Hirn beständig bedrängten, hielt er sich fast immer daheim eingeschlossen." Sein Kopf arbeitete unaufhörlich, und er hatte keinen BHck für das, was in seiner Umgebung vorging. Und welche Exaltation, welche Tränenströme, wäh- rend er arbeitete! Er schluchzte, während er die Arie kompo- nierte: „He was despised"'^^^. „Ich habe erzählen hören," sagt Sheffield, „daß sein Diener, wenn er ihm die Frühstücks- schokolade brachte, ihn oft dabei überraschte, wie er weinte und das Papier, auf dem er gerade schrieb, mit seinen Tränen näßte." In bezug auf das Hallelluja im Messias zitierte er oft

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die Worte des Paulus: ,,0b ich im Leibe gewesen bin oder außer dem Leibe, als ich schrieb, ich weiß es nicht. Gott weiß es."

Diese ungeheure Fleischmasse \NT.irde oft von Wutanfällen geschüttelt. Er fluchte fast bei jedem Wort. Wenn das Orchester ,,die große weiße Perücke vibrieren sah, zitterten die Musiker". Wenn seine Chöre nicht bei der Sache waren, hatte er eine Art, ,,Chorus!" zu brüllen, daß das Publikum zusammen- fuhr. Selbst als der Prinz und die Prinzessin von Wales bei den Oratorienproben in Carlston House nicht pünktlich waren, nahm er keinen Anstoß, seinen Zorn zu zeigen; wenn die Hofdamen das Unglück hatten, während der Ausführung zu flüstern, so pflegte er ,, nicht nur zu fluchen, sondern sie gar bey Namen aufzurufen. Dann aber sagte gemeiniglich die Prinzessinn von Wallis mit ihrer gewohnten Sanftmuth und Freundlichkeit: ,Stille! stille! Händel ist böse.'"

Böse war er nun nicht. ,,Er war zufahrend, rauh und ent- scheidend in seinem Umgang und Betragen," sagt Burney, „aber ohne alle Bösartigkeit und Tücke. Auch war in seinen lebhaftesten Aufwallungen des Zorns und der Ungeduld eine gewisse Laune und Spaßhaftigkeit, die vollends durch sein gebrochenes Englisch noch lächerlicher wurde." Er hatte die Gabe des Herrschens wie Lully und Gluck; wie bei ihnen verband sich in ihm die Kraft des Zornes, der über Widerstände Herr werden will, mit einer geistvollen Gut- mütigkeit, welche die geschlagenen Wunden sofort wieder zu heilen wußte; seine allmächtige Waffe war das Lachen. ,, Während der Proben war er ein Mann von Autorität; aber in seinen Bemerkungen und selbst in seinem Tadel steckte oft ein Humor von größter Komik." Als die Londoner Oper ein Schlachtfeld der Anhänger der Faustina und der Cuzzoni war, als die beiden Primadonnen sich mitten in einer von der Prinzessin von Wales besuchten Vorstellung unter dem

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Toben des Saales in die Haare fuhren, zeigte eine Posse von Colley Cibber, der diese historische Rauferei behandelte, Händel als den einzigen, der seine Ruhe inmitten dieses Hexensabbats behielt. ,, Meiner Meinung nach", sagte er, „soll man sie in Frieden kämpfen lassen. Wer sie beruhigen will, schüttet Öl ins Feuer. Wenn sie müde sein werden, wird ihre Wut von selber aufhören." Und damit der Kampf eher zu Ende wäre, begleitete er ihn mit großen Paukenschlägen. Selbst wenn er zornig wird, fühlt man, daß er im Grunde lacht. So als er die cholerische Cuzzoni, die sich weigert, eine Arie zu singen, um die Taille faßt, zum Fenster schleppt und ihr droht, sie auf die Straße zu werfen, indem er gravitätisch sagt: „Meine Gnädige, ich weiß schon, daß Sie eine Teufelin sind; aber ich bin Beelzebub, der Herr aller Teufel." {^ßhl Madame^ je sgais bien, que vous ites une veritable Diablesse ; mais je vous ferai SQavoir, moi, que je suis Beelzebub^ le chef des Diables."'^^'^ )

Sein Leben lang blieb er bewunderungswürdig frei. Er haßte alle Ketten und blieb außerhalb aller öffentlichen Stel- lungen; denn als eine solche konnte man seinen Titel als Pro- fessor der Prinzessinnen nicht ansehen. Die großen musika- lischen Stellen am Hofe und die fetten Renten wurden ihm nie zuteil, auch nicht nach seiner Naturalisation als Engländer; statt seiner erhielten sie mäßige Komponisten neben ihm^^^. Übrigens schonte er diese auch nicht, sondern sprach mit höhnischer Verachtung von seinen englischen Kollegen. Außer- halb der Musik scheint er wenig gelernt zu haben^*^, und er verachtete Akademien und akademische Musiker. Er wurde nicht Doktor von Oxford, obgleich ihm dieser Titel angeboten worden war. Man sagt ihm folgende Äußerung nach:

,, Hätte ich mein Geld ausgeben sollen, um zu werden, was diese Idioten^^" sind? Niemals!"

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Als man ihn später in Dublin auf einem Plakat „Dr. Handel" nannte, wurde er böse und ließ schnell in den Pro- grammen verbessern: „Mr. Handel".

Obgleich er den Ruhm keineswegs verschmähte in seinem Testament beschäftigt er sich mit seinem Begräbnis in West- minster und setzt sorgsam den Preis für sein eigenes Denkmal fest , war ihm die Meinung der Kritik völlig gleichgültig. Niemals konnte Mattheson die Auskünfte erhalten, die er für eine Biographie brauchte. Seine jean-jacquische Art em- pörte die Hofgesellschaft. Diese Weltleute, die von jeher die Künstler gedemütigt haben, ohne daß jene Protest erhoben, waren sehr verstimmt über die hochmütige Rauhbeinigkeit, mit der er sie in Distanz hielt. 1719 schrieb der Feldmarschall Graf Flemming an Händeis Schülerin, Fräulein von Schulen- burg:

,,Mein Fräulein! Ich habe gewünscht, mit Herrn Händel zu sprechen und ihm Ihnen zuliebe einige Freundlichkeit zu erweisen; allein es war unmöglich; ich bat ihn in Ihrem Namen, mich zu besuchen, allein bald ist er nicht daheim, bald ist er unpaß; es will mir scheinen, daß er etwas sonderlich ist, und das sollte er gerade mir gegenüber nicht sein, der ich Musiker bin und mir schmeichle, einer Ihrer treuesten Diener zu sein, mein Fräulein, die Sie wieder die liebenswerteste seiner Schülerinnen sind. Ich wollte Ihnen dies alles sagen, damit Sie nun Ihrerseits beginnen mögen, Ihrem Lehrer einige Lektionen zu geben . . ."^^^

1741 erwähnt ein anonymer Brief an die London Daily Post^^^ ,,die öffentlich bezeugte Unzufriedenheit vieler Herren von Rang und Einfluß" gegenüber Händeis Betragen.

Außer bei der einzigen Oper „Radamisto", die er Georg I. widmete er tat es mit Würde hielt er sich von der de- mütigenden und einträglichen Gewohnheit fern, sich mit

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seinen Werken unter das Patronat irgendwelcher reicher Leute zu stellen. Erst als er in höchster Not war, als Armut und Krankheit ihn völlig unterjochten, entschloß er sich, ein Konzert zu seinem eigenen Besten zu geben, „zu dieser Form, Almosen zu erbitten", wie er sagte.

Von 1720 bis zu seinem Tode befand er sich in beständigem Kampfe mit dem Publikum. Er stand wie Lully an der Spitze eines Theaters, leitete eine Akademie und bemühte sich den musikalischen Geschmack einer Nation zu reformieren oder besser, zu formen. Aber er hat nie die Machtmöglichkeiten Lullys, der absoluter Monarch in der französischen Musik war, besessen, und wenn er sich auch gleich ihm auf die Gunst des Königs stützte, so hatte diese Gunst für ihn bei weitem nicht die gleiche Bedeutung wie für Lully. Er lebte in einem Lande, das Winken von oben keineswegs gehorsam folgte, das sich vom Staat nicht unterjochen ließ, sondern frei blieb, mit einer Neigung zum Frondieren und mit Ausnahme einiger weniger Auserlesener ebenso ungastlich wie fremdenfeindlich war. Fremd aber war er ebenso wie sein hannoverscher König, dessen Schutz ihn mehr kompromittierte als förderte.

Um ihn herum kläffte eine bissige Bulldoggenpresse, un- musikalische Literaten, die auch zu beißen wußten, eifersüch- tige Kollegen, eitle Virtuosen, Komödianten, die sich unter- einander alles Üble antaten, weltliche Klatschgesellschaften, weibliche Kabalen, Patrioten-Verbände. Er war das Opfer von Geldverlegenheiten, die ihn von Tag zu Tag fester umstrick- ten; fortwährend mußte er neue Stücke schreiben, um die Neugier eines Publikums zu befriedigen, das im Grunde nichts befriedigte, das sich für nichts interessierte, er mußte sich der Konkurrenz der Harlekinaden und der Bärenkämpfe erwehren, mußte schreiben, schreiben, nicht wie Lully, der in Ruhe seine alljährliche Oper vollendet, sondern zwei, drei in einem Winter,

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die Stücke anderer Komponisten, die er einstudieren und leiten mußte, gar nicht zu zählen. Wo ist ein andrer Meister, der sein Handwerk betrieben hat wie dieser, zwanzig Jahre lang?

In diesem immerwährenden Kampf machte er niemals Konzessionen, schloß keine Kompromisse, übte keine Rück- sichten, weder auf seine Darstellerinnen noch auf ihre vor- nehme Beschützer, auf Tagesschreiber und die ganze Clique die das Glück des Theaters und den Ruhm oder den Unter- gang des Künstlers in Händen hat. Er trotzte der Londoner Aristokratie. Es war ein harter, unerbittlicher und von selten der Gegner unvornehm geführter Krieg. Es gab kein noch so kleinliches Mittel, das nicht benutzt wurde, um ihn dem Bankrott zuzutreiben.

1733 blieben, nach einem Kampf mit der Presse und den Salons, die Konzerte völhg leer, in denen Händel seine ersten Oratorien aufführte, und damit war ihr Ruin besiegelt. Schon beglückwünschte man sich, daß der entmutigte Deutsche im Begriff sei, in sein Vaterland zurückzukehren. 1741 ging die Kabale der Gesellschaft so weit, daß sie kleine Gassenjungen mietete, um in den Straßen die Konzertplakate Händeis ab- zureißen, und ,,sie benutzte tausend andere ebenso abscheu- liche Mittel, um ihm Schaden zu bereiten''^^^. Wahrschein- lich hätte Händel nun doch Großbritannien verlassen, wenn er nicht in Irland unerwarteten Anhang gefunden hätte, wo er ein Jahr lang blieb. Im Jahre 1745, nach seinen Meister- werken, „Messias", ,,Samson", ,,Belsazar", ,, Herakles", erhob die Kabale heftiger als jemals ihr Haupt. Bolingbroke und Smollet erzählen von dem Übereifer, mit dem gewisse Damen ihre Feste, Tees, Amateurvorstellungen gerade an den Tagen, und noch dazu ungewöhnlicherweise in der Fastenzeit, veran- stalteten, an denen Händeis Konzerte angekündigt waren, da- mit seine Zuhörer ausbleiben sollten. Horace Walpole findet

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die Mode drollig, in die italienische Oper zu gehen, während Händel seine Oratorien aufführt. ^^*

Genug, Händel war ruiniert; wenn er später doch wieder hochkam, so war es aus Ursachen, die mit der Kunst nichts zu tun haben. 1746 geschah, was mit Beethoven 1813 nach der „Schlacht bei Vittoria" und seinen patriotischen Gesängen aus Anlaß der Erhebung Deutschlands gegen Napoleon ge- schehen war: Händel wurde plötzlich nach der Schlacht von CuUoden und den zwei patriotischen Oratorien ,,Occasional Oratorio" und ,, Judas Makkabäus" ein nationaler Barde. Von diesem Augenblick an war der Sieg errungen, die Kabale mußte schweigen; er gehörte jetzt zu England, der britische Löwe stand zu ihm. Aber wenn sein Ruhm nunmehr von England nicht mehr bestritten war, so hat er ihn doch teuer zahlen müssen, und es war nicht das Verdienst des Londoner Publi- kums, wenn Händel nicht in Kummer und Elend am Wege niederbrach; zweimal hat er Konkurs gemacht^^^; einmal sank er, vom Schlage getroffen, auf den Ruinen seines Unter- nehmens zusammen^^^. Aber immer erhob er sich wieder, und niemals gab er nach. ,,Er hätte nur einige Konzessionen machen müssen, um seine Kräfte wieder zu sammeln, aber seine ganze Natur wehrte sich dagegen . . ." i^' ,,Er haßte alles, was seine Freiheit einschränken konnte, er war unnach- giebig in allem, was die Ehre seiner Kunst betraf. Er wollte seinen Erfolg nur sich selbst danken." ^^^ Ein englischer Karikaturist hat ihn unter dem Titel „Die verzauberte Bestie" dargestellt, wie er ein Band mit Füßen tritt, auf dem geschrieben steht: „Pensionen, Pfründen, Adel, Freundschaft." Und über diesem ganzen Zusammenbruch lächelte er sein überlegenes Lächeln eines klassischen Pantagruel. Als er sich eines Abends vor einem leeren Konzertsaale sah, sagte er: „Desto besser wird die Musik klingen!"

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Diese gewaltige Natur mit ihrer Heftigkeit und ihren Aus- brüchen von Zorn und Genie ward dennoch gebändigt von einem souveränen Willen. In ihm war der innere Friede, der sich mitunter bei Kindern aus späten und starken Ehen findet^^'. Solange er lebte, behielt er in seiner Kunst diese tiefe ruhige Heiterkeit. In den Tagen, in denen seine vergötterte Mutter starb, schrieb er ,,Poro", diese schöne, glückliche, sorglose Opern- musik. ^^° Das schreckliche Jahr 1737, in dem er in tiefster Not und sterbenskrank war, ist eingerahmt von zwei Oratorien voll Jubel und wuchtiger Kraft, dem ,, Alexander fest" (1736) und „Saul" (1738), und ferner von dem heiteren Glanz der Opern „Giustino" (1736), voll sanfter schäferlicher Anmut, und „Serse" (1738), mit seinen komischen Zügen.

„. . . La calma dd cor, del sen, delV älma", sagt eine Arie am Ende des gelassenen ^fiiustino" . . . Das war in jenem Augenblick, in dem Händeis Kopf vor Sorgen zu bersten drohte ! Die Antipsychologen mögen triumphieren, die da behaupten, es sei für das Verständnis eines Kunstwerkes ganz unnötig, das Leben seines Schöpfers zu kennen. Aber sie mögen nicht zu früh jubeln: denn das eben ist das Ent- scheidende für die Beurteilung Händelscher Kunst, daß diese Kunst völlig unabhängig von seinem Leben war. Wenn ein Beethoven seine Leiden und Leidenschaften in Werken voller Leid und Leidenschaft ausströmte, so ist das zu verstehen. Aber daß der kranke, von Sorgen gepeitschte Händel sich durch heitere und frohe Werke zerstreuen konnte, das beweist ein fast übermenschliches seelisches Gleichgewicht. Wie ver- ständlich ist es darum, daß Beethoven, als er sich anschickte, das Lied an die Freude zu schreiben, von Händel fasziniert wurde !^^i Er mochte den Mann mit neidvollen Blicken an- sehen, der schon jenen Zustand der Überlegenheit über sich und die Dinge der Welt erreicht hatte, den Beethoven anstrebte

5 Rolland, Musikalische R^iso 65

und zu dem er erst nach leidenschaftlichen Bemühungen gelangen sollte. Diese Bemühungen müssen wir bewundern; sie sind ungeheuer, in der Tat. Aber ist nicht die Ruhe, mit der Händel sich auf diesen Höhen erhält, ebenso verehrungs- würdig ? Man hat sich zu sehr daran gewöhnt, seine Heiterkeit als die phlegmatische Gleichgültigkeit eines englischen Athleten anzusehen.

„Er zieht aus blutigroten Fleisches Saft

Die Nahrung für sein Werk voll Mut und Kraft." ^^^

Man kann sich die Nervenanspannung und die übermensch- liche Willenskraft nicht vorstellen, die er brauchte, um diese Ruhe zu bewahren. In manchen Augenblicken versagt die Maschine vollständig. Die prachtvolle Gesundheit des Körpers und der Seele wird bis in die Wurzeln zerrüttet. 1737 fürchteten Händeis Freunde, daß er seinen Verstand für immer eingebüßt habe. Es war nicht die einzige derartige Krise in seinem Leben. Als 1745 die Feindschaft der englischen Gesellschaft sich gegen seine Meisterwerke „Belsazar" und „Herakles" richtete und ihn zum, zweiten Male vollständig ruinierte, umnachtete sich sein Geist abermals. Nur der Zufall eines kürzlich veröffentlichten Briefwechsels hat uns darüber berichtet. ^^^ Die Gräfin von Shaftesbury schreibt am 13. März 1745:

„Mit schmerzlicher Freude ging ich zum ,, Alexanderfest". Die Tränen kamen mir beim Anblick des großen unglücklichen Händel, der abgezehrt, finster und niedergeschlagen am Klavier saß, das er nicht mehr spielen konnte. Es macht mich sehr traurig zu denken, daß diese Leuchte sich im Dienste der Musik verzehrt hat."

Am 29. August des gleichen Jahres schreibt der Reverend William Harris an seine Frau:

„Händel auf der Straße getroffen, ihn angesprochen und

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mich in Erinnerung gebracht. Du hättest sicherhch gelacht, wenn Du seine sonderbaren Bewegungen gesehen hättest. Er sprach sehr viel von seinem schlechten Gesundheitszustand."

Dieser Zustand dauerte sieben oder acht Monate. Am 24. Oktober schreibt Shaftesbury an Harris:

„Der arme Händel sieht ein wenig besser aus. Ich hoffe, daß er wieder völlig genesen wird, obgleich sein Verstand ganz in Unordnung war."

Er genas vollständig, da er schon im November sein „Occasional Oratorio" schrieb und um weniges später seinen ,, Judas Makka- bäus". Aber es ist klar, daß er beständig über einem Abgrund schwebte. Nur mit seiner ganzen Kraft erhielt er sich darüber, und er, das gesündeste aller Genies, war oft nur eine Spanne weit vom Wahnsinn entfernt. Und dabei, ich muß es wieder- holen, sind uns diese vorübergehenden Störungen nur durch den Zufall eines veröffentlichten Briefwechsels enthüllt worden. Es mag viele andere geben, von denen wir nichts ahnen. Vergessen wir das nicht, und entsinnen wir uns, daß Händeis Ruhe nur eine ungeheure Ausgabe stürmischster Leiden- schaftlichkeit maskiert. Der gleichgültige, phlegmatische Händel ist nur eine Fassade. Wer ihn so sieht, hat ihn nie verstanden, ist nie in diese Seele eingedrungen, die durch- schüttert wurde von Ausbrüchen von Stolz, Leidenschaft, Zorn und Glück, diese Seele, die zuzeiten wie halluziniert war. Die Musik aber war für ihn eine reine Region, in die er die Stürme seines Lebens nicht tragen wollte; wenn er sich ihnen dennoch hingibt, so geschieht das gegen seinen Willen, dann wird er von dem Delirium des Sehers fortgewirbelt so erscheint ihm der Gott Mosis und der Propheten in seinen Psalmen und Oratorien oder sein Herz reißt ihn in Augen- blicken des Mitleids und Erbarmens fort, doch stets ohne die geringste Sentimentalität^^*.

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In seiner Kunst sah er das Leben aus weiter Höhe und Ferne an, wie Goethe. Unsere moderne Empfindsamkeit, die sich hemmungslos auszuströmen und darzubieten liebt, begreift das nicht mehr. Es scheint uns, als herrschte in diesem Reich der Kunst, das menschlichen Zufälligkeiten unerreichbar ist, ein allzu gleichmäßiges Licht. Es sind die Gefilde der Seligen, in denen man vom Leben ausruht, in denen man sich aber zuweilen nach dem Leben sehnen mag. Ist indessen der An- blick dieses Meisters nicht ergreifend, der heiter inmitten aller Leiden seines Daseins bleibt, dessen Stirn von Klarheit leuchtet und in dessen Herzen die gemeine Sorge keinen Zugang findet ?

Ein Mensch, der so ausschließlich seiner Kunst lebte, hatte nicht das Zeug, Frauen zu gefallen, und er hat sich auch leicht damit abgefunden. Dennoch fand er in ihnen seine begeistert- sten Anhänger und seine giftigsten Gegner. Englische Pam- phlete haben sich über eine seiner Anbeterinnen erheitert, die ihm zur Zeit seines „Giulio Cesare'^ unter dem Pseudonym Ophelia eine Lorbeerkrone schickte mit einem Huldigungs- gedicht, das ihn nicht nur als den größten Musiker, sondern auch als den größten englischen Dichter seiner Zeit feierte. Von den Weltdamen, die den traurigen Ehrgeiz hatten, ihn zu ruinieren, ist schon die Rede gewesen. Händel blieb gegen Liebe und Haß gleichgültig.

Als er mit zwanzig Jahren in Italien weilte, hatte er einige vorübergehende Neigungen, deren Spuren in den ,, Italienischen Kantaten" erhalten sind^^^. AngebUch hatte er in Hamburg eine Liebesgeschichte, als er zweiter Geiger im dortigen Opern- orchester war. Er verhebte sich in eine Schülerin, ein junges Mädchen aus guter Familie, und wollte sie heiraten, allein die Mutter erklärte, daß sie niemals die Zustimmung zur Heirat ihrer Tochter mit einem Geigenkratzer geben würde. Später,

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als die Mutter starb und Händel berühmt wurde, ließ man ihn wissen, das die Hindernisse beseitigt seien ; allein er antwortete, die richtige Zeit sei vorüber, und, so erzählt sein Freund Schmidt, der als romantischer Deutscher das Bedürfnis fühlt, die Geschichte ein wenig auszuschmücken, ,,die junge Dame verfiel in ein Siechtum, welches ihrem Leben bald ein Ende machte". Etwas später, in London, taucht ein neues Heirats- projekt mit einer vornehmen jungen Dame auf, gleichfalls einer Schülerin, aber diese aristokratische Persönlichkeit wünschte, daß er seinen Beruf aufgäbe. Der empörte Händel löste ent- schlossen ein Verhältnis, welches die großen Fähigkeiten seines Geistes eingeengt haben würde. i*^ Hawkins erzählt: „Seine Wünsche nach Geselligkeit waren nie sehr stark, und daher kommt es wahrscheinlich, daß er Junggeselle blieb ; man sagt, er habe keinerlei Verkehr mit Frauen gehabt." Schmidt, der ihn viel besser kannte als Hawkins, erklärt dagegen, Händel sei keineswegs ungesellig gewesen, aber sein wütendes Unab- hängigkeitsbedürfnis fürchtete Erniedrigung und scheute die unlösbaren Fesseln.

An Stelle der Liebe kannte und übte er die Freundschaft. Er wußte Anhänglichkeiten von rührender Tiefe zu erwecken wie die jenes Schmidt, der 1726 sein Vaterland und seine Familie verließ, um ihm zu folgen, und sich bis zu seinem Tode nicht mehr von ihm trennte. Seine Freunde fanden sich unter den besten Geistern der Zeit: so der kluge Dr. Arbuthnot, hinter dessen scheinbarem Epikureertum sich eine stoische Menschen- verachtung verbarg und der in seinem letzten Briefe an Swift das wunderbare Wort fand: ,,Der Welt zuliebe den Pfad der Ehre und der Tugend verlassen, das ist die Welt nicht wert." Händel hatte auch einen tiefen und pietätvollen Familiensinn, der ihn nie verließ^®' und dem er in einigen ergreifenden Figuren Gestalt lieh, so in der guten Mutter im „Salomon" und im „Joseph".

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Aber seine schönste und reinste Empfindung war die Mild- tätigkeit. In diesem Lande, das im 18. Jahrhundert eine prachtvolle Bewegung menschlichen Solidaritätsgefühls sah^^^, war er einer der wärmsten Anwälte der Unglücklichen. Seine Großmut erstreckte sich nicht auf jene allein, die er persönlich kannte, wie auf die Witwe seines einstigen Lehrers Zachau, sie strömte sich beständig im reichsten Maße aus, zum Besten aller wohltätigen Anstalten und besonders für zwei, die seinem Herzen nahestanden: das Hilfswerk für arme Musiker und das für verlassene Kinder.

The Society of Musicians war im Jahre 1738 von einer Gruppe der hervorragendsten Londoner Künstler gegründet worden, um verarmten Kollegen und ihren Familien zu Hilfe zu kommen. Alte Musiker bekamen zehn Schilling pro Woche, Witwen sieben. Man trug auch Sorge für ein anständiges Begräbnis. Händel war, so übel es ihm oft erging, großmütiger als alle andern. Am 20. März 1739 dirigierte er zum Vorteil der Ge- sellschaft auf seine Kosten das „Alexanderfest" nebst einem neuen Orgelkonzert, das er für diese Gelegenheit geschrieben hatte. Am 28. März 1740, mitten in seiner bösesten Zeit, dirigierte er „Acis und Galatea" und die kleine Cäcilienode. Am 18. März 1741 veranstaltete er eine für ihn sehr lästige Galavorstellung des ,,Parnasso in Festa" mit Dekorationen und Kostümen und fünf Solokonzerten, die von den berühmtesten Instrumentalisten ausgeführt wurden. Er stiftete tausend Pfund, den höchsten Betrag, der bei der Gesellschaft einging.

Was das Foundling Hospital anbetrifft, das 1739 von dem alten Seemann Thomas Coram „zur Hilfeleistung und Er- ziehung verlassener Kinder" gegründet worden war, ,,so kann man sagen," schrieb Mainwaring, „daß es Händel seine Existenz und sein Aufblühen verdankte". ^^^ Händel schrieb 1749 sein schönes „Anthem for the Foundling Hospital" zu dessen

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Gunsten. 1750 wurde er zum governor (Administrator) dieser Anstalt gewählt, nachdem er ihr eine Orgel gestiftet hatte. Es ist bekannt, daß sein ,, Messias" zum ersten Male und auch in der Folge fast immer zugunsten wohltätiger Veranstaltungen aufgeführt wurde. Die erste Aufführung in Dublin, am 12. April 1742, fand zum Besten der Armen statt. Das Erträgnis wurde gleichermaßen unter die Hilfsgesellschaft für Schuldgefangene, das ArmenhospitaP'" und das Mercersche Krankenhaus ver- teilt. Als der Erfolg des „Messias" sich nicht ohne Wider- stände — in London bestätigt hatte, beschloß Händel, ihn all- jährlich zum Besten des Findelhauses aufzuführen. Selbst als er schon erblindet war, dirigierte er noch die Aufführungen. Von 1750 bis zum Todesjahre Händeis 1759 brachte der „Messias" dem Institut der verlassenen Kinder 6955 Pfund Sterling ein. Händel hatte seinem Verleger Walsh verboten, etwas aus dem Werke zu veröffentlichen, dessen erste Ausgabe erst 1763 er- schien, und er vermachte dem Haus eine Kopie der Partitur mit allen Stimmen. Er hatte eine andere der Hilfsgesellschaft für Schuldgefangene in Dublin gegeben mit der Erlaubnis, ,,sie zu ihren Gunsten zu verwerten, wie es ihr gut scheine".

Diese Liebe zu den Armen hat Händel einige seiner zartesten Stücke eingegeben, darunter einige Stellen des „Foundling Änthem", die voll der rührendsten Güte sind, oder den er- greifenden Anruf der Waisen und verlassenen Kinder, deren herbe klare Stimmen sich ganz einsam, wie entblößt, inmitten eines Triumphgesangs im ,,Funeral Änthem" erheben, um Zeugnis für die Mildherzigkeit der verstorbenen Königin ab- zulegen.

Fast auf den Tag ein Jahr vor Händeis Tode findet man im Register des Foundling Hospital den Namen einer kleinen Maria Augusta Händel, geboren am 15. April 1758. Das war ein verlassenes Kind, dem er seinen Namen gegeben hatte.

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Die Güte war sein wahrer Glaube. Er liebte Gott in den Armen.

Im übrigen war er wenig religiös in der strengen Bedeutung des Wortes und wurde es erst am Ende seines Lebensweges, als ihn seine Blindheit völlig von dem Umgang mit Menschen abschloß und ihn fast ganz isolierte. Hawkins sah ihn, in den drei letzten Jahren, hingegeben an dem Gottesdienst in seiner Gemeinde (8t. George, Hanover Square) teilnehmen, wo er ,,auf den Knien lag und in seiner Stellung und seinen Gebärden die tiefste Andacht ausdrückte". Während seiner letzten Krankheit sagte er: ,,Ich möchte am Karfreitag sterben, damit ich die Hoffnung hätte, mich mit meinem Gott, meinem lieben Herrn und Heiland, am Tage seiner Auferstehung zu vereinigen." 1'^

Sonst im Leben und zur Zeit seiner vollen Kraft ging er indessen wenig in die Kirche. Er war als Lutheraner geboren und antwortete römischen Einflüssen, die ihn zu sich bekehren wollten, nicht ohne Ironie, ,,daß er in dem Glauben, in dem er auferzogen sei, auch sterben wolle, gleichviel ob er richtig oder falsch sei"i'2. Dennoch nahm er später keinen Anstoß daran, sich der englischen Kirche unterzuordnen, der er im übrigen für ziemlich ungläubig galt.

Seine Seele war religiös, wie immer sein Glaube auch sein mochte, und er hatte einen hohen Begriff von den moralischen Aufgaben der Kunst. Nach der ersten Londoner Aufführung seines „Messias" sagte er einem vornehmen Herrn: „Es täte mir leid, Mylord, wenn ich den Menschen Vergnügen bereitete; mein Ziel ist, sie zu bessern." ^'^

So lange er lebte, war sein moralischer Charakter allgemein und öffentlich anerkannt, wie Beethoven stolz von sich sagte 1'*. Selbst in seiner umstrittensten Zeit erkannten klar- blickende Bewunderer den sozialen und moralischen Wert

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seiner Kunst. Ein 1745 in englischen Zeitungen veröffent- lichtes Gedicht rühmte die wunderbare Macht der Musik des „Saul", Schmerzen zu lindern, indem sie den Schmerz verklärte. Ein am 18. April 1739 an die London Daily Post gerichteter Brief sagte, ,,ein Volk, das die Musik des ,, Israel in Ägypten" mitfühlte, hätte nichts zu fürchten, wenn auch der Feind drohend vor den Toren stünde"^'^.

Keine andere Musik strömt eine solche Glaubenskraft aus. Dieser Glaube versetzt Berge und läßt wie Mosis Stab aus dem Fels verhärteter Seelen die Quellen der Unendlichkeit strömen. Es gibt Stellen in den Oratorien, Aufschreie der Auferstehungs- seligkeit, die ein lebendiges Wunder sind, wie Lazarus, der sich aus dem Grabe erhebt. So wenn im zweiten Akt der ,,Theo- dora"!^^ Gottes machtvolles Gebot inmitten eines Todes- schweigens ertönt:

„Steh! rief sein Wort: der Jüngling steht empor."

Oder in der „Trauerhymne" der berauschte, in seiner Seelig- keit fast schmerzvolle Aufschrei der unsterblichen Seele, die sich vom Irdischen befreit und die Arme dem Herrn entgegen- streckt^".

Nichts aber kommt an seelischer Größe dem Chor gleich, der den zweiten Akt des ,,Jephtha" abschließt. Nichts läßt den heroischen Glauben Händeis so erkennen wie die Ge- schichte dieses Werkes.

Als er es am 21. Januar 1751 zu schreiben begann, war er vollkommen gesund, trotz seiner Sechsundsechzig Jahre. Er schrieb den ersten Akt in einem Zuge innerhalb von zwölf Tagen. Nirgends ein Zeichen von Leiden, nie war sein Geist freier und von seinem Stoff unberührter gewesen.^' ^ Im Ver- lauf des zweiten wurde sein Blick mit einem Male trüb. Die anfangs so klare Handschrift wird undeuthch und zitterig.^" Auch die Musik nimmt einen schmerzvollen Charakter an.^^^

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Er hatte eben den Schlußchor des zweiten Aktes begonnen: „Wie hart, wie dunkel, Herr, ist dein Beschluß", hatte die Introduktion vollendet, ein Largo mit pathetischen Modu- lationen, als er aufhören mußte. Er schreibt unten auf die Seite:

„Bis hierher, den 13. Februar 1751, verhindert worden wegen des Gesicht meines linken Auges."

Zehn Tage unterbricht er die Arbeit, am elften notiert er in seinem Manuskript:

„Den 23. dieses etwas besser worden, wird angefangen."

Er setzt Worte in Musik, die wie eine tragische Anspielung auf. sein eigenes Schicksal sind :

„Unser Glück kehrt sich in Klage . . . Licht und Glanz versinkt in Nacht."

In fünf Tagen schleppt er sich mühsam bis zum Schluß dieses düstern Chors, der in dem Dunkel, das um ihn ist, eines der überwältigendsten Bekenntnisse der Macht des Glaubens über den Schmerz darstellt er, dem früher fünf Tage genügten, um einen ganzen Akt zu schreiben! Am Ende dieses düster- wogenden Stückes murmeln einige Tenor- und Baßstimmen unisono leise:

„Wie's Gott auch fügt . . ."

Sie zögern einen Augenblick, scheinen Atem zu schöpfen, und plötzlich bekennen alle Stimmen zusammen mit uner- schütterlicher Überzeugungskraft :

„. . . ist's gut!"

Das ganze Heldentum Händeis und seiner mutvollen Kunst, die von Tapferkeit und Glaubensfeuer glüht, lodert noch ein- mal auf in diesem Schrei eines sterbenden Herkules.

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IV.

Die Entstellung des

„klassischen Stils" in der Musik

des 1 8. Jahrhunderts

Jeder Musiker erkennt augenblicklich die tiefen Unterschiede, welche den großen vorklassischen Stil von J. S. Bach und Händel von dem sogenannten klassischen Stil am Ende des Jahrhunderts scheiden: der eine, mit seiner breiten, streng gebundenen Rhetorik, seiner gelehrten polyphonen Schreib- weise, seiner überpersönlichen Objektivität der andere klar, spontan empfunden, melodisch, die wechselnden Nuancen der Seelen widerspiegelnd, die sich ganz ihrem Werk hin- geben, und der bald zu Bekenntnissen Rousseauscher Art gesteigert werden sollte, bei Beethoven und den Romantikern. Es scheint, daß zwischen diesen Stilen mehr als ein Menschen- alter liegen müßte.

Nun beachte man aber die Daten: J. S. Bach stirbt 1750, Händel 1759. Im gleichen Jahre stirbt C. H. Graun. 1759 gibt Haydn seine erste Symphonie heraus. Glucks ,, Orpheus" erscheint 1762, die ersten Sonaten von Phil. Em. Bach 1742. Der geniale Herold der neuen Symphonie, Johann Stamitz, stirbt vor Händel 1757. Also haben die Führer der beiden großen künstlerischen Richtungen nebeneinander gelebt. Der Stil Keisers, Telemanns, Hasses, der Mannheimer Symphoniker, das Vorbild der großen Wiener Klassiker, ist den Werken J.S. Bachs und Händeis zeitgenössisch. Mehr noch, man gab jenen, solange sie lebten, den Vorrang. Im Jahre 1737, dem Jahre, das dem ,, Alexander fest" folgt und dem ,,Saur' und der herrlichen Oratorienserie Händeis vorangeht, schrieb Fried- rich II. von Preußen, damals noch Kronprinz, dem Prinzen von Oranien:

,, Händeis gute Tage sind vorüber, sein Kopf ist leer und sein Geschmack aus der Mode."

Und Friedrich II. stellt dieser ,, altmodischen" Kunst die- jenige „seines Komponisten" gegenüber, wie er C. H. Graun nennt.

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1722 23, als Bach sich um die Nachfolge Kuhnaus am Kantorat der Leipziger Thomaskirche bewarb, zog man ihm Telemann bei weitem vor, und nur weil Telemann die Stelle ' nicht wollte, bekam sie Bach. Der gleiche Telemann stand vom Beginn seiner Laufbahn, 1704, als er noch kaum bekannt war, ebenbürtig neben dem berühmten Kuhnau: so stark war schon die neue Modeströmung. Diese Strömung wurde mit der Zeit immer stärker. Ein Gedicht Zachariaes, welches ziemlich genau die Meinung der gebildetsten Kreise in Deutsch- land wiedergibt, „Die Tageszeiten", 1754 geschrieben, stellt Händel, Hasse und Graun in die gleiche Reihe, feiert Tele- mann in Worten, die man heute für J. S. Bach gebrauchen würde^^i, und wenn er zu Bach und seinen ,, melodischen Söhnen" kommt, weiß er sie nicht anders zu rühmen denn als Virtuosen, als Könige der Orgel und des Klaviers. Dieses Urteil ist auch noch das des Historikers Burney im Jahre 1772. Das ist freilich für uns verwunderlich, aber wir müssen uns vor Entrüstung hüten. Es wäre ein karges Verdienst, von der Höhe der zwei Jahrhunderte, die uns von ihnen trennen, die Zeitgenossen Bachs und Händeis mit der Schwere unserer Verachtung zu strafen, weil sie ihre Meister falsch beurteilt haben. Es ist lehrreicher, wenn man versucht, sie zu verstehen.

Zunächst beachte man die Haltung Bachs und Händeis ihrer Zeit gegenüber. Weder der eine noch der andere nimmt die fatale Pose des verkannten Genies an, wie so viele unserer großen oder kleinen großen Männer von heute. Sie sind nicht entrüstet, sie haben sogar die besten Beziehungen zu ihren glückhchen Nebenbuhlern. J. S. Bach und Hasse waren die besten Freunde und achteten sich gegenseitig hoch. Telemann verband seit seiner frühen Jugend eine herzliche Freundschaft mit Händel; er unterhielt gute Beziehungen mit J. S. Bach,

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der ihn zum Paten seines Sohnes Philipp Emanuel wählte. Bach vertraute die musikalische Erziehung seines Liebhngs- sohnes Wilhelm Friedemann J. Gottlieb Graun an. Nirgends findet man einen Parteigeist. Auf beiden Seiten nur über- legene Menschen, die einander lieben und achten.

Versuchen wir, sie mit der gleichen Gesinnung warmer und gerechter Sympathie zu studieren. Bach und Händel werden darum von ihrer riesigen Größe nichts einbüßen. Aber wir werden die Überraschung erleben, daß wir rund um sie eine Menge schöner Werke und Künstler voll IntelHgenz und Be- gabung gewahren, und die Gründe für die Vorliebe, die sie in ihrer Zeit genossen, werden uns nicht verschlossen bleiben. Ohne von dem individuellen Wert dieser Künstler zu sprechen, der zuweilen sehr groß ist, ist es gerade ihr Geist, der zu den klassischen Meisterwerken am Ende des Jahrhunderts führt. J. S. Bach und Händel sind zwei Gipfel, die eine Epoche be- herrschen, aber auch abschließen. Telemann, Hasse, Jommelh, die Mannheimer Symphoniker sind Flüsse, die sich einen Weg in die Zukunft gebahnt haben. Diese Flüsse haben sich in breiteren Strömen für immer verloren Mozart, Beethoven und sind darum von uns vergessen worden, während wir noch aus der Ferne die hohen Gipfel ragen sehen. Aber wir schulden den Neuerern Dank. Das Leben war mit ihnen; sie haben es uns weitergegeben.

Man kennt den berühmten Streit der Alten und der Mo- dernen, der zu Ende des 17. Jahrhunderts von Charles Perrault und Fontenelle in Frankreich eröffnet wurde, welche der Nach- ahmung der Antike die kartesianische Idee des Fortschritts gegenüberstellten, und der zwanzig Jahre später von Houdar de la Motte im Namen der Vernunft und des modernen Ge- schmacks wieder aufgenommen wurde.

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Dieser Streit ging weit über die Persönlichkeit derer hinaus, die ihn entfesselten. Er entsprach einer universellen Bewegung des europäischen Gedankenlebens; man findet in allen Ländern des Okzidents, in allen Künsten ähnliche Symptome. Sie sind besonders frappierend in der deutschen Musik. Die Generation Keisers, Telemanns, Matthesons empfindet seit der Kindheit eine instinktive Abneigung gegen jene, welche die alte Richtung in der Musik darstellen, die Kontrapunktisten, die Kanoniker. Am Eingang dieser Bewegung steht Keiser, dessen künst- lerischer Einfluß auf Hasse, Graun, Mattheson^^^ (übrigens auch auf Händel) sehr stark und entscheidend war. Aber der erste, der seinen Empfindungen deutlichen, eindringlichen und wiederholten Ausdruck gab, war Telemann.

Schon 1704 nimmt er gegen den greisen Musikforscher Printz die Haltung Demokrits gegenüber Heraklit an:

,,Er beweinte bitterlich die Ausschweif fungen der itzigen melo- dischen Setzer : wie ich denn die unmelodischen Künsteleien der Alten belachte."

1718 zitiert er die französischen Verse:

,,iV^e les eleve pas (die Alten) dans un ouvrage saint Au rang dans ce temps les Auteurs ont atteint."

Das ist eine ehrliche Erklärung der Modernen gegen die Alten. Wer aber sind die Modernen für ihn ? Die Modernen sind die Melodiker.

„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen.

Wer die Gomposition ergreifft, muß in seinen Sätzen singen."

Telemann fügt hinzu, daß ein junger Musiker sich in die Schule der italienischen und jungdeutschen Melodiker begeben müsse, nicht in jene ,,der Alten, die zwar krauß genug contra- punctiren, aber darbey an Erfindung nackend sind, oder 15. biß 20. obligate Stimmen machen, wo aber Diogenes selbst mit seiner Laterne kein Tröpfgen Melodie finden würde."

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Der größte Theoretiker der Epoche, Mattheson, spricht auch nicht anders. In seiner „Critica musica^' sagt er 1722, er sei ,,in der heutigen Welt, ohne Ruhm zu melden^^^, wobl der erste, der auf Melodien hart und öffentlich dringet. Ich wüste auch keinen musicalischen Autorem gelesen zu haben, der diesen ersten, führnehmsten und schönsten Theil . . . nicht, wie der Hahn die heisse Kohlen, üher- hüpfet hätte."

Wenn er auch nicht der erste war, wie er es behauptet, war er zum mindesten der Lärmendste gewesen. 1713 begann er einen heftigen Kampf zugunsten der Melodie gegen die Kontra- punktisten, welche ein Wolfenbüttler Organist, Bokemeyer, vertrat, der ebenso gelehrt und streitlustig war wie er. Matthe- son sah im Kanon und im Kontrapunkt nur eine geistige Übung ohne Macht über das Herz. Um seinen Gegner zur Vernunft zu bringen, nahm er Keiser, Heinichen und Tele- mann als Schiedsrichter, die für ihn entschieden. Bokemeyer erklärte sich für geschlagen und dankte Mattheson dafür, ihn zur Melodie bekehrt zu haben, „als der einzigen und wahren Quelle echt musikalischer Kunst". ^^^

Telemann sagte: ,,Wer auf Instrumenten spielt, muß des Bingens kündig seyn," und Mattheson, daß jede Musik, die instrumentale so gut wie die A^okale, „cantabih'^ geschrieben werden müsse.

Die überragende Stellung, die man der sangbaren Melodie und dem Gesang zuwies, ließ die Schranken zwischen den verschiedenen Arten der Musik sinken, indem man ihnen allen als Vorbild die Gattung gab, in der sich die vokale Melodie und die Gesangskunst zur Vollendung entfalteten: die italie- nische Oper. Die Oratorien von Telemann, Hasse und Graun, die Messen der Zeit haben Opernstil. ^^^ In seinem „Musika- lischen Patrioten" kämpft Mattheson 1728 gegen den kontra-

6 Rolland. Musikalische Reise ' 81

punktischen Stil in der Kirche; auch hier möchte er wie anderwärts den „theatralischen Stil" sehen, weil dieser nach seiner Meinung, mehr als jeder andere, dem Ziel kirchlicher Musik nahekommt, tugendhafte Leidenschaften zu erregen. Alles ist oder sollte theatralisch sein, sagt er, im weitesten Sinne des Wortes theatralisch, welches bedeutet: künstlerische Nachahmung der Natur. Es ist „alles Wesen in der Welt recht theatralisch . . . Die Musik ist theatralisch . . . gleich wie dieses grosse, gewaltige Welt-Gebäude einem herrlichen Theater und Schauplatz . . . gar gleich und ähnlich ist." Dieser theatra- lische Stil sollte die ganze Musik durchdringen bis in jene Gebiete, die die geschütztesten schienen: das Lied, die Instru- mentalmusik.

Aber diese Stilveränderung würde keinen lebensvollen Fort- schritt bedeuten, wenn nicht das allgemeine Vorbild, die Oper, selbst zu jener Zeit durch ein neues Element verändert worden wäre, das sich mit ungeahnter Raschheit entwickeln sollte: das symphonische Element. Was auf der Seite der vokalen Polyphonie verloren geht, findet sich bei der Instrumental- symphonie wieder. Die große Eroberung von Telemann, Hasse, Graun, Jommelli in der Oper ist das recitativo accompagnato, Rezitativszenen mit dramatischem Orchester.^^^ Hier, auf der musikalischen Bühne, sollten sie revolutionär wirken. Sobald das Orchester in die Oper eingeführt war, war es Herrscher. Vergebens rief man, daß es den schönen Gesang verdürbe. Sie, die ihn gegen die alte kontrapunktische Kunst verteidigt hatten, zögerten nicht, ihn nötigenfalls dem Orchester zum Opfer zu bringen. Jommelli, in allem übrigen vor Metastasio so unterwürfig, widerstand ihm in diesem einzigen Punkt mit unerschütterlichem Eigensinn. ^^' Man muß die Klagen der alten Musiker lesen:

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„Man hört keine Stimmen mehr, das Orchester wirkt be- täubend."

Seit 1740 konnte man bei den Opernvorstellungen die Worte der Sänger nicht mehr verstehen, wenn man nicht im Buch folgte: die Begleitung erstickte die Stimmen.^^^ Und das dramatische Orchester entwickelte sich im Verlauf des Jahr- hunderts immer weiter. ,,Die Maßlosigkeit der Orchester- begleitung", sagt Gerber, ,,ist allgemeine Mode geworden."

Das Orchester beherrscht das Theater so sehr, daß es sich sehr bald freimachen und selber Theater und Drama sein will. Von 1738 an schrieb Scheibe, neben Mattheson der intelli- genteste deutsche Musikforscher, Symphonieouvertüren, welche „mit dem Inhalte der Schauspiele übereinkommen", in der Art von Beethovens ,,Coriolan" oder seiner Leonoren.^^^ Ich spreche gar nicht von beschreibender Musik, die zu jener Zeit in Deutschland sich verbreitete, wie man aus den spöttischen Bemerkungen Matthesons in seiner „Critica musica'''' entnimmt. Diese Bewegung kam von Italien, wo Vivaldi und Locatelli unter dem Einfluß der Oper Programmkonzerte schrieben, die über ganz Europa ihren Weg nahmen i^^** dann war es di« französische Musik, ,,die kluge Nachahmerin der Natur" i'*^, deren Einfluß entscheidend für die ,, Tonmalerei" in der deutschen Kunst wurde. ^^2 \Yas ich hervorheben möchte, ist aber folgendes: Selbst die Gegner der Programmusik, die wie Mattheson sich über die Extravaganz von Schlachten- beschreibungen lustig machten, von Gewittern, musikahschen Kalendern^^^, über den kindischen Symbolismus, der auf dem Wege des Kontrapunktes das erste Kapitel im Evangelium Matthäi illustrierte oder den Stammbaum des Erlösers oder die zwölf Apostel zwölfstimmig darstellte, selbst jene schrieben der Instrumentalmusik die Macht zu, das Leben der Seele darzustellen.

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„Man kann", sagt Mattheson, „mit blossen Instrumenten z. E. eine Großmuth, eine Liebe, einen Eifer etc. gar wohl vor- stellen" i^*, und alle Gefühlsregungen durch schlichte Akkorde und ihre Verschlingungen ohne Worte so darstellen, daß der Hörer den Gang, den Sinn, den Gedanken des musikalischen Gesprächs verstehe und begreife, als ob es ein wirklich ge- sprochenes Gespräch wäre.

Ein wenig später, gegen 1767, drückte der Dichter Gersten- berg in einem Briefe an Philipp Emanuel Bach mit voll- kommener Deutlichkeit die Idee aus, daß die wahre Instru- mentalmusik, und namentlich jene für Klavier, bestimmte Gefühle und Gegenstände auszudrücken habe; und er hoffte, daß Philipp Emanuel Bach, den er einen ,,Raffael durch Töne" nannte, diese Kunst verwirklichen würde. ^^^

Man war also zum klaren Bewußtsein der Macht gekommen, den die absolute Musik in bezug auf Ausdruck und Schilderung hat; man kann sagen, daß einzelne Musiker der Epoche, wie Telemann, bei dem die Tonmalerei den ersten Platz einnimmt, förmlich davon berauscht wurden.

Aber was man genau erfassen muß, das ist die Tatsache, diaß es sich nicht nur um eine literarische Bewegung handelte, welche in die Musik außermusikalische Elemente einführen und eine Malerei oder Dichtung aus ihr machen wollte. Es war eine tiefgehende Revolution, welche sich im Herzen der Musik selbst vollzog. Die individuelle Seele emanzipiert sich von der Unpersönlichkeit der Form und das subjektive Ele- ment, die PersönHchkeit des Künstlers, bricht mit bis dahin unerhörter Kühnheit durch. Gewiß erkennen wir die Persön- lichkeit Bachs und Händeis in ihren mächtigen Werken. Aber \Ndr wissen, mit welcher Strenge sich diese Werke nach festen Gesetzen entwickelt haben, die nicht nur nicht die der persön- lichen Erregung sind, sondern sie sogar vermeiden oder ihr von

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vornherein widersprechen sei es in einer Fuge oder in einer Dacapo-Arie, welche unfehlbar die Motive in vorherbestimmten Augenblicken und Stellen wiederkehren lassen müssen, während die innere Bewegung verlangen würde, daß man ihr weiter folgt, statt sie rückwärts zu führen , die andererseits dem Wogen der Gefühle ängstlich ausweichen und ihnen nur Einlaß ge- währen unter der Bedingung, daß sie sich in symmetrischen Gegensätzen etwas steif und mechanisch zwischen dem forte und dem piano, dem tutti und dem concertino bewegen, als ,,Echo", wie man damals sagte. Es schien unkünstlerisch, auf unmittelbare Weise sein individuelles Empfinden auszusprechen, und geboten, zwischen Künstler und Publikum den Schleier der schönen unpersönlichen Form zu breiten. Zweifellos haben die Werke dieser Epoche dadurch den großartigen Charakter er- habener Überlegenheit gewonnen, welche kleine Freuden und kleine Leiden verdeckt. Aber wieviel Menschlichkeit haben sie dabei verloren ! Diese Menschlichkeit trat nun, mit den Künstlern der neuen Ära, mit einem Schrei der Befreiung in die Musik. Selbstverständlich können wir nicht erwarten, daß sie sofort die bebende Freiheit eines Beethoven erreiche. Dennoch liegen die Wurzeln Beethovenscher Kunst schon, wie bewiesen ist, in den Mannheimer Symphonien, im Werk des erstaunlichen Johann Stamitz, dessen Orchestertrios aus den Jahren um 1750 ein neues Zeitalter anzeigen.i^ß Durch ihn wurde die Instrumentalmusik das geschmeidige Gewand der lebendigen Seele, die immer in Bewegung ist, beständig im Wechsel ihrer plötzUchen Übergänge und Kontraste.

Ich will nicht übertreiben. Man kann in der Kunst niemals die reine Empfindung ausdrücken, sondern höchstens ein mehr oder weniger annäherndes Bild von ihr geben; der Fortschritt einer Sprache, wie der der Musik, besteht nur darin, sich ihr mehr und mehr zu nähern, ohne sie jemals ganz zu erreichen.

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Ich behaupte also nicht, was auch töricht wäre, daß die neuen Symphoniker den Rahmen gesprengt und den Gedanken aus der Sklaverei der Form befreit hätten; sie haben im Gegenteil neue Formen geschaffen; zu dieser Zeit sind mit Entschieden- heit die klassischen Typen der Sonate und der Symphonie aufgetaucht, wie sie heute an musikalischen Anstalten erklärt werden. Wenn nun diese Typen auf uns veraltet wirken, wenn das moderne Empfinden sich nicht ohne Zwang in ihren etwas enggewordenen Zuschnitt schickt, wenn sie im Laufe der Zeit das Ansehen einer schulmäßigen Konvention gewonnen haben: so muß man bedenken, wie frei und lebendig sie damals schienen im Gegensatz zu den bis dahin üblichen Stilen und Formen. Überdies kann man sagen, daß sie für die Erfinder dieser neuen Formen oder für jene, die sie zuerst benutzten, viel freier waren als für jene, die folgten. Sie waren noch nicht allgemeingültige Form geworden, sie waren die persönliche Form ihrer Schöpfer, nach ihrem eigenen Gedanken, dem Rhythmus ihres Atems erschaffen. Ich zögere nicht, zu sagen, daß die Symphonie von J. Stamitz, wiewohl weniger schön, weniger reich, weniger üppig, viel spontaner wirkt als die eines Haydn oder Mozart. Sie ist nach seinem Maß gemacht. Er erschafft die Form, er unterwirft sich ihr nicht.

Welch ursprüngliche Wesen, diese ersten Mannheimer Symphoniker! Sie wagen es zur Empörung aller Musiker und namentlich der norddeutschen Musikpäpste, die ästhetische Einheit zu zerbrechen, Stile zu mischen, in ihr Werk, wie ein Kritiker sagt, „das Lahme, das Unmelodische, das Niedrige, das Possierliche, das Zerstückelte, alle die fieberhaften Anfälle des beständigen Abwechseins von Forte und Piano" ^^^ ein- zuführen ! Sie ziehen ihren Vorteil aus allen neuen Errungen- schaften, aus dem Fortschritt des Orchesters, den gewagten neuen Harmonieversuchen eines Telemann, der den entsetzten

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alten Meistern, die ihn warnen, zu weit zu gehen, antwortet: ,,Bis in den untersten Grund, wenn man den Namen eines fleißigen Meisters verdienen will!"^^^ Sie benutzen auch die neuen Gattungen, so das eben entstandene Singspiel. Sie führen kühn den komischen Stil neben dem ernsten in die Symphonie ein, auf die Gefahr hin, Philipp Emanuel Bach zu skandalisieren, der im Einbruch des ,,itzt so beliebten Komischen" ein Symptom des Verfalls in der Musik sieht^^^, eines Verfalls, der zu Mozart führen sollte! Genug, ihr Gesetz ist die Natürlichkeit und das Leben, dieses Gesetz sollte die Musik ganz durchdringen, das Lied erneuern, das Singspiel erschaffen, sollte zu dem Versuch äußerster Un- gebundenheit im musikalischen Theater führen, zu jenem Melodrama, in dem sich Musik und Wort in gleicher Freiheit verbinden.

Dieses tiefe Aufatmen sich freiringender Seelen ist uns ver- traut. Es erschüttert das innere Leben ganz Europas im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, bis es sich in der Tat durch die Revolution, in der Kunst durch die Romantik durch- setzt. Wenn die damalige deutsche Musik dem romantischen Geist noch sehr fern steht, obgleich seine Vorboten sich an- kündigen, so darum, weil sie gegen Ausschweifungen des künstlerischen Individualismus durch die Erkenntnis der sozialen Pflichten der Kunst und durch einen leidenschaft- lichen Patriotismus geschützt blieb.

Man weiß, wie tief das germanische Empfinden in der deut- schen Musik gegen das Ende des 17. Jahrhunderts gesunken war. Man hatte von ihr im Auslande die geringschätzigsten Vorstellungen. Das Wort Lecerfs de la Vieville ist bekannt, der 1705 sagte, daß die Deutschen ,, keinen großen Ruf in der Musik hätten", oder jenes des Abbe von Chäteauneuf, der

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einen deutschen Virtuosen um so mehr bewunderte, als er, wie er sagt, ,,aus einem Lande kam, das so wenig geeignet ist, Männer mit feurigem Genie hervorzubringen". Die Deutschen selbst unterschrieben dieses Urteil; während ihre Fürsten und reichen Bürger in Frankreich und Italien herumreisten und die Manieren von Paris oder Venedig nachäfften, war Deutsch- land voller französischer und italienischer Künstler, welche Ge- setze gaben, ihren Stil aufdrängten und alle Gunst genossen. Ich habe früher von einem Roman Joh. Kuhnaus, ,,Der musikalische Quacksalber", aus dem Jahre 1700, gesprochen, dessen komischer Held ein deutscher Abenteurer ist, der sich für einen Italiener ausgibt, um den Snobbismus seiner Land- leute auszunutzen. Es ist dies der Typus der Deutschen von damals, die ihre Nationalität verleugneten, um an dem Ruhm der Welschen teilzunehmen.

In den zwanzig ersten Jahren des 18. Jahrhunderts ließ sich indessen schon eine Veränderung in der Gesinnung wahr- nehmen. Die musikalische Generation um Händel in Hamburg Keiser, Telemann, Mattheson geht nicht nach Italien. Sie tut sich etwas darauf zu gute, sie fängt an, sich über die eigenen Kräfte Rechenschaft zu geben. Händel selbst schlug es zuerst ab, die italienische Pilgerfahrt anzutreten; zur Zeit, da er in Hamburg seine ,,Almira" schrieb, gab er vor, italienische Musik sehr zu verachten. Der Ruin der Hamburger Oper nötigte ihn indessen, die klassische Tour doch anzutreten, und als er erst dort war, unterlag er dem Reiz der lateinischen Circe, wie alle, die einmal mit ihr bekannt geworden sind. Immerhin entnahm er ihr das Beste ihres Geistes, ohne seinen eigenen Geist zu verändern; sein Sieg in Italien, der Triumph seiner „Agrippina" in Venedig 1708 hatte starken Einfluß auf die Renaissance des Nationalstolzes; der Widerhall in Deutschland zeigte sich augenblicklich. Mehr noch wirkte

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der Londoner Erfolg seines „Rinaldo" 1711. Man denke: hier ist ein Norddeutscher, von dem ganz Europa zugeben muß, daß er die Italiener auf ihrem eigenen Gebiet geschlagen hat! Die Italiener selbst gestanden dies zu. Seine italienischen Partituren aus London wurden sofort in Italien gespielt. Der Dichter Barthold Feind teilt seinen Hamburger Landsleuten 1715 mit, daß Händel von den Italienern „VOrfeo del nostro secolo" genannt werde. Eine seltene Ehre, fügt er hinzu, denn niemals sei ein Deutscher von einem Italiener oder einem Franzosen so genannt worden, da diese Herren die Gewohn- heit hätten, über die Deutschen zu spotten.

Wie rasch und heftig beginnt das Nationalgefühl in der Musik sich in den folgenden Jahren zu entwickeln! 1728 schreit der ,, Musikalische Patriot" Matthesons: „Fuori Barbaril"

Man untersage den Welschen, meint er, die Deutschland von Ost bis West bedrängten, ihr Handwerk und schicke sie über ihre wilden Alpen zurück, sich im Feuer des Ätna zu reinigen.

1729 schleudert Martin Heinrich Fuhrmann wütende Pam- phlete gegen den italienischen „Opern- Quark".

Besonders ist es Joh. Adolf Scheibe, der den Nationalstolz unermüdlich anfeuert. Zunächst 1737 40 in seinem ,,Cri- tischen Musicus". 1745 sagt er, daß Bach, Händel, Telemann, Hasse und Graun ,,zum Ruhme unseres Vaterlandes alle anderen ausländischen Komponisten, sie mögen auch seyn, wo sie wollen, beschämen . . . Wir sind also nicht mehr Nachahmer der Italiener, vielmehr können wir uns mit Recht rühmen, daß die Italiener endlich die Nachahmer der Deutschen geworden sind ... Ja wir haben endUch auch in der Musik den guten Geschmack gefunden, den uns Italien noch niemals in seiner völligen Schönheit gezeigt hat. . . . Die Herstellung des guten Geschmacks in der Musik (Hasse, Graun) ist also

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ein Werk des deutschen Witzes gewesen; und keine andere Nation wird sich dieses wahren Vorzugs rühmen können. Noch muß ich erinnern, daß die Deutschen schon seit langen Zeiten in der Instrumentalmusik große Meister gewesen sind; und diese Geschicklichkeit haben sie auch noch itzo erhalten."

Ebenso sprechen Mizler und Marpurg. Die Italiener beugen sich vor diesen Urteilen. Antonio Lotti schreibt 1738 an Mizler:

„ilfiei compatrioti sono genii e non com'positori^ ma la uera composizione se truva in Germania." ^^^ (Meine Landsleute sind Genies und keine Komponisten; aber die wahre Kompo- sition findet sich in Deutschland.)

Man sieht den Frontwechsel, der sich in der Musik vollzieht. Zuerst die Periode der großen Italiener, die in Deutschland triumphieren; hierauf die der großen romanisierten Deutschen: Händel, Hasse. Endlich die Zeit der germanisierten Italiener: Jommelli.

Selbst in Frankreich, wo man sich viel mehr einschloß, ohne sich um das zu bekümmern, was in Deutschland vorging, wird man sich klar über die Revolution, die sich vollzieht. 1734 konstatiert Serre de Rieux den Sieg Händeis über Italien:

„Flavius^ Tamerlan, Othon^ Benaud, Cesar, Admete, Siroe, Rodelinde et Richard, Eternels monuments dresses ä sa memoire. Des Operas Romains surpasserent la gloire. Venise lui peut-elle opposer un rival?"^^'^

Grimm, der ein Geck war und sich wohl gehütet hätte, eine Verwandtschaft anzuerkennen, die ihm bei Publikum schaden konnte, rühmt sich in einem Briefe an -den Abbe Raynal 1752, der Landsmann Hasses und Händeis zu sein. Telemann wird 1737 in Paris gefeiert. Hasse wird 1750 nicht weniger gut empfangen, und der Dauphin beauftragt ihn, das Tedeum

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zur Entbindung der Dauphine zu schreiben. J. Stamitz führt 1754 55 seine ersten Symphonien in Paris zum Triumph. Bald darauf schmettern die französischen Blätter Rameau durch den Vergleich mit den deutschen Symphonikern nieder. Oder vielmehr, sie sagen: „Wir wollen nicht die Ungerechtigkeit begehen, Rameaus Ouvertüren mit den Symphonien zu ver- gleichen, welche Deutschland uns seit zwölf oder fünfzehn Jahren gibt . . ."202

So hat also die deutsche Musik ihren Platz an der Spitze europäischer Kunst wieder erobert: und die Deutschen sind sich dessen bewußt. In diesem gemeinsamen nationalen Emp- finden schwinden alle andern Verschiedenheiten, alle deutschen Künstler, welcher Gruppe sie auch angehören mögen, reichen sich die Hand: Deutschland vereinigt sie, es gibt keine Scheidung nach Schulen mehr. Das Gedicht Zachariaes, das ich vorhin zitiert habe, zeigt uns um die Mitte des Jahrhunderts die Häupter der jungen und der alten Schule zu Deutschlands Ruhm in dem von ihm so benannten ,, Tempel der Ewigkeit" vereinigt:

,,Mit frohem Entzücken Sieht die Muse Schaaren bey Schaaren, und segnet die Namen, Deren zu viel sind, als daß sie die Grenzen des engeren Liedes Alle versammeln könnten; die aber mit güldenen Lettern Das Gerücht' an die Pfeiler im Tempel der Ewigkeit schreibet . . . Und hier wolle die Muse Germaniens Ehre behaupten. Welches vor allen Völkern den musikalischen Lorbeer Kühn sich zueignen darf; und mehr und größere Namen Unter seinen Meistern zehlet, als Welschland, und Frankreich."

Die Rangordnung dieser Meister ist bei Zachariae sehr ver- schieden von der, die wir heute gelten lassen würden. Aber er nennt sie fast alle; und in dem Akkord ihres Ruhms schwillt der Stolz über die Macht des musikaHschen Deutschland.

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Nicht nur der Ehrgeiz der Künstler ist angestachelt, auch ihre Vaterlandsliebe. Man schreibt patriotische Opern^o^. Selbst an den Höfen, wo die Italiener die Musik beherrschen, wie an dem Friedrichs II. in Berlin, hört man C. H. Graun Fried- richs Schlachten besingen: Hochkirch, Zorndorf, Roßbach, bald in Sonaten, bald in dramatischen Szenen.^"* Gluck schreibt 1766 sein „Vaterländslied" und seine ,, Hermannsschlacht" auf Klopstocksche Worte. Bald entrüstet sich der junge Mozart in seinen zornbebenden Pariser Briefen 1778 gegen die Italiener und Franzosen bis zur Beleidigung:

„Ich zittere an Händen und Füßen vor Begierde, den Fran- zosen immer mehr die Deutschen kennen, schätzen und fürchten zu lernen! "205

Diese überreizte Vaterlandsliebe, die bei großen Künstlern wie Mozart unerfreulich ist, weil sie sie äußerst ungerecht gegen das Genie anderer Rassen macht, hat wenigstens das Resultat gehabt, daß sie die Künstler über hochmütigen Individualismus oder schlaffes Dilettantentum hinaustrieb. In die deutsche Kunst, deren Atmosphäre allzusehr verdünnt war und die erstickt wäre, hätte sie nicht, um Atem zu schöpfen, seit zwei Jahrhunderten den religiösen Glauben gehabt, bringt dieser Patriotismus einen frischen Luftzug. Diese Musiker schreiben nicht für sich allein, sie schreiben für alle ihre Lands- leute, sie schreiben für alle Menschen.

Und hier findet sich der deutsche Patriotismus mit den Ideen der „Philosophen" jener Zeit zusammen: die Kunst soll nicht mehr der bevorzugte Besitz einer Elite sein, sie ist allgemeines Gut. Das ist das Credo der neuen Epoche, und es wird auf jede Art wiederholt:

,,Wer vielen nutzen kann, Thut besser, als wer nur für wenige was schreibet."

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Um nun nützen zu können, meint Telemann weiter, müsse man leicht von allen verstanden werden können. Infolgedessen sei es das oberste Gesetz, einfach, leicht und klar zu sein. Immer habe er sich „der Leichtigkeit beflissen", denn die Musik solle keine Mühe sein, keine okkulte Wissenschaft, keine schwarze Magie.

Als Mattheson 1739 seinen ,, Vollkommenen Kapeilmeister" schrieb, welcher der Kodex des neuen Stils ist, der musikalischen Kunst der neuen Schule, fordert er, daß man die große Kunst beiseite tue oder sie zumindest verberge: man soll mit An- strengung leichte Musik schreiben. Er meint sogar, wenn der Musiker eine gute Melodie schreiben wolle, müsse er trach- ten, daß das Thema ein gewisses Etwas habe, das alle Welt schon kennt. (NatürHch handelt es sich nicht um schon ge- brauchte Motive, aber um solche, die so natürlich scheinen, daß jeder sie zu kennen glauben muß.) Als Muster solch melodische! „Leichtigkeit" empfiehlt er die Franzosen zu studieren.

Dieselben Ideen werden von den Männern ausgesprochen, die an der Spitze der Berliner Gesangsschule stehen, die in Ramler ihren Boileau hatten. In seiner Vorrede zu den ,,Oden mit Melodien", 1753 55, verweist auch Ramler seine Lands- leute auf das Beispiel Frankreichs, wo damals, wie er sagt, alle Leute aus allen Gesellschaftsklassen sangen.

„Wir Deutsche", fügt er hinzu, ,,studiren jetzt die Musik überall; doch in manchen großen Städten will man nichts als* Opernarien hören. In diesen Arien herrscht aber nicht der Gesang, der sich in ein leichtes Scherzlied schickt, das von jedem Munde ohne Mühe angestimmt . . . werden könnte." Man müsse für alle komponieren. ,,Wir leben gesellig . . . Und was ist bei diesen Gelegenheiten natürlicher, als daß man singt? Man will aber keine ernsthaften Lieder singen, denn man ist

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zusammengekommen, seinen Ernst zu unterbrechen. Die Lieder sollen artig, fein, naiv sein, nicht so poetisch, daß sie die schöne Sängerin nicht verstehen kann, auch nicht so leicht und fließend, daß sie kein witziger Koj3f lesen mag."

Die Grundsätze, die er dann ausspricht, sind stark über- trieben.206 Indessen führten sie ein Aufblühen des Liedes im Volkston herbei; der vollendete Meister dieses Genres, der Mozart des Liedes, Joh. Abr. Peter Schulz, konnte 1784 in der Vorrede einer seiner reizenden Sammlungen von Liedern ,,im Volkston" sagen:

Ich habe mich ,,in den Melodien selbst der höchsten Simpli- cität und Faßlichkeit beflissen, ja auf alle Weise den Schein desBekannten darinzubringen gesucht ... In diesem Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimnis des Volkstons; nur muß man ihn mit dem Bekannten selbst nicht verwechseln."

Das sind genau Matthesons Ideen. Neben diesen volkstüm- lichen Melodien entsteht eine unglaubliche Blüte von Liedern geselliger Freude, deutscher Gesänge für alle Alter, alle Geschlechter, für deutsche Männer, für Kinder, fürs schöne Geschlecht^"^ usw. Die Musik ist ungemein gesellig geworden.

Auch haben die Häupter der neuen Schule bewunderungs- würdig gearbeitet, um die Kenntnis und die Liebe dafür überall zu verbreiten. Große Konzerte werden begründet. 1715 gibt Telemann öffentliche Aufführungen im Collegium musicum, das er in Frankfurt errichtet hatte. Besonders aber seit 1722 führt er in Hamburg regelmäßige, bezahlte, öffentliche Konzerte ein. Sie fanden zweimal die Woche, Montag und Donnerstag um vier Uhr, statt. Der Eintritt betrug 1 fl. 8 Gr. Telemann dirigierte dort Werke aller Art, Instrumental- musik, Kantaten, Oratorien. Diese Konzerte, die von dem vornehmsten Publikum der Stadt besucht, von der Kritik sehr beachtet, sorgsam und pünktlich geleitet wurden, kamen

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so in Blüte, daß man 1761 einen schönen, bequemen, heizbaren Saal für sie errichtete, eine Heimstätte der Musik. Das ist mehr, als Paris bis in die letzte Zeit hinein seinen Musikern zu bieten geruhte. Johann Adam Hiller, der Lehrer Neefes, der Beethovens Lehrer wurde, ein Vorkämpfer des populären Stils im Liede und im Theater, wo er die komische Oper be- gründete, trug, wie Telemann, mächtig dazu bei, die Musik in der ganzen Nation zu verbreiten, indem er seit 1763 die Lieb- haberkonzerte in Leipzig dirigierte, aus denen später die be- rühmten Gewandhauskonzerte hervorgehen sollten.

Wir befinden uns demnach einer großen musikalischen Be- wegung gegenüber, die zugleich national und demokratisch ist. Aber sie nimmt noch einen andern unerwarteten Charakter an: diese nationale Strömung führt eine Menge fremder Ele- mente mit sich. Der neue Stil, der sich im Laufe des 18. Jahr- hunderts in Deutschland formt und in den Wiener Klassikern zur Blüte gelangt, ist in Wahrheit viel weniger rein deutsch als der Stil J. S. Bachs. Und dabei war auch dieser letztere immer noch weniger deutsch, als man im allgemeinen be- hauptet: denn er hatte ein gut Teil italienischer und franzö- sischer Kunst in sich aufgenommen. Der Kern freilich blieb bei ihm echt deutsch. Das war bei den neuen Musikern nicht der Fall. Die musikalische Revolution, die sich 1750 voll- ständig durchgesetzt und im Primat der deutschen Musik ihren Abschluß gefunden hat, war, so seltsam dies klingen mag, das Resultat fremder Einflüsse. Die weitblickendsten deutschen Musikhistoriker, wie Hugo Riemann, haben das wohl bemerkt, aber nicht so nachdrücklich betont, wie nötig war; denn es ist keine unbeträchtliche Tatsache, daß die Häupter der neuen deutschen Instrumentalmusik, die ersten Mann- heimer Symphoniker, Johann Stamitz, Piltz, Zarth, aus

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Böhmen stammen, wie der Reformator der deutschen Oper, Gluck, wie der Schöpfer des Melodrams und des deutschen tragischen Singspiels, Georg Benda, Dieses Feuer, diesen elementaren Elan, diese Naturechtheit der neuen Symphonie haben die Tschechen und Italiener in die deutsche Musik gebracht. Es ist auch keine gleichgültige Tatsache, daß diese neue Musik ihre festesten Stützen und eifrigsten Herolde in Paris fand, wo die ersten Auflagen der Mannheimer Symphonien erschienen, wo Stamitz seine Werke dirigierte und sofort in Gossec einen Schüler bekam, daß es Frankreich war, wo andere Meister sich alsbald niederließen, Richter in Straßburg, Beck in Bordeaux, wie denn die der neuen Richtung feindliche norddeutsche Kritik mit sicherem Gefühl von ,, Symphonien nach der neuesten wälschen Mode^'^^s und von „in Paris jetzt Mode gewordenen Komponisten" 209 sprach.

Diese Verwandtschaft mit östlichen und südlichen Völkern zeigt sich nicht nur in der Symphonie allein. Die Opern von Jommelli in Stuttgart, wie später jene Glucks, sind verwandelt, belebt durch den Einfluß der französischen Oper, die ihm sein Herr, der Herzog Karl Eugen, als Vorbild hinstellt. Das Sing- spiel, die deutsche komische Oper hat seine Wiege in Paris, wo Weiße die Werkchen von Favart gesehen hatte, die er in seine Heimat verpflanzte. Das neue deutsche Lied steht unter dem Einfluß französischer Muster, wie Ramler und Schulz ausdrücklich sagen welch' letzterer sogar Lieder auf französische Worte schreibt. Telemanns Erziehung war mehr französisch als deutsch gewesen. Er hatte die französische Musik zuerst in Hannover kennengelernt, als er 1698 oder 1699 am Hildesheimer Gymnasium studierte; dann ein zweites Mal in Sorau, wo er, wie er sagte, des LuUy, Campra und anderer guter Meister habhaft wurde ,,und legte mich fast gantz auf derselben Schreibart, sodaß ich der Ouvertüren in

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zwey Jahren bey 200. zusammen brachte" ; ein drittes Mal in Eisenach, der Heimat J. S. Bachs, welches, was zu beachten ist, um 1708 09 ein Herd der französischen Musik war: Pantaleon Hebenstreit hatte die Kapelle des Herzogs ,,am meisten nach frantzösischer Art eingerichtet", und das war ihm so gut gelungen, daß sie, wenn man Telemann glauben darf, ,,das parisische, so sehr berühmte Opern-Orchester über- troffen habe". Eine Reise nach Paris 1737 ließ den Deutschen Telemann völlig zum Franzosen werden; während seine Werke auf dem Repertoire der Concerts Spintuels in Paris blieben, machte er in Hamburg leidenschaftliche Propaganda für fran- zösische Musik. Ist es nicht ein charakteristisches Zeichen für die Epoche, wenn dieser Pionier des neuen Stils in seiner Selbstbiographie von 1729 gelassen und ausdrücklich von seinen verschiedenen Stilen sagt:

„Was ich in den Stylis der Music gethan, ist bekannt. Erst war es der Polnische, dann folgete der Französ., Kirchen-, Cammer- und Opern-Styl, und was sich nach dem Italiänischen nennet, m.it welchem ich denn itzo das mehreste zu thun habe."

Es ist mir unmöglich, in diesen flüchtigen Notizen, die nur die Skizze zu einer Vorlesung darstellen, bei gewissen Ein- flüssen zu verweilen, namentlich bei dem der polnischen Musik, die man zu wenig beachtet und deren Stil dennoch den damaligen deutschen Meistern eine Fülle von Inspirationen gegeben hat^^". Was ich aber beleuchten möchte, ist die Tat- sache, daß die Häupter der neuen deutschen Musik, wiewohl von tiefem Nationalgefühl durchdrungen, doch von fremden Einflüssen bewegt waren, die über die deutschen Grenzen aus Böhmen, Polen, Italien, Frankreich kamen. Dies war kein Zu- fall: es war eine Notwendigkeit. Die machtvolle deutsche Musik hatte schweres Blut und hat es immer besessen. Die Musik anderer Länder die französische zum Beispiel braucht

7 Rolland, Mueikalische Reise 97

hauptsächlich Nährstoffe, braucht Kohle, die Maschine zu speisen. Nicht die Kohle mangelt der deutschen Musik, aber die Luft. Sicherlich war sie nicht arm im 18. Jahrhundert; eher war sie zu reich, beschwert durch ihren Reichtum; der Kamin war verstopft; das Feuer drohte zu erlöschen ohne die Ströme frischer Luft, denen Männer wie Telemann, Hasse, Stamitz das Tor öffneten alle Tore von Frankreich, Polen, Italien und Böhmen her. Süddeutschland und die Rheinlande, Mannheim, Stuttgart und Wien waren die Werkstätten der neuen Kunst; man merkt es an der Eifersucht Norddeutsch- lands, das lange Zeit ihr Feind blieb ^^i.

Es geschieht nicht in dem niedrigen Gedanken, die Größe der deutsch-klassischen Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts zu verkleinern, wenn ich aufzeige, was sie fremden Einflüssen oder Elementen verdankt. Es mußte so kommen, damit diese Kunst so rasch eine universale werden konnte, wie es der Fall war. Ein enger und auf sich selbst gestellter nationalistischer Geist hat niemals eine Kunst zur Vorherrschaft geführt. Er würde sie im Gegenteil rasch durch Abzehrung zugrunde richten. Eine Kunst, die stark und lebensvoll sein soll, darf sich nicht ängstlich in einer Sekte einspinnen; sie darf nicht in einem Treibhause Schutz suchen, wie die unglücklichen Bäume, die man in Töpfen aufzieht; sie muß in freier Erde wachsen, frei in ihr die Wurzeln ausbreiten, denn sie kann von überall Leben saugen. Der Geist soll alle Substanz des Weltalls in sich aufnehmen. Er wird darum nicht minder den Charakter seiner Rasse behalten; aber er wird ihr, die nur von sich selber zehrend verkümmerte und dahinsiechte, mit dem frischen Blut und Saft der Fremde, den er ihr mitteilt, Allweltlichkeit verleihen. Urbis orbis. Die andern Rassen werden sich in ihr wieder erkennen. Und sie werden sich nicht nur vor ihrem Sieg beugen, sondern sie werden sie lieben und

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sich mit ihr vereinigen. Dieser Sieg wird der größte, den eine Kunst oder eine Nation anstreben kann; er wird ein Sieg der Menschheit.

Eines der schönsten Beispiele solcher so seltener Siege ist jener der klassischen deutschen Kunst zu Ende des 18. Jahr- hunderts. Diese Kunst ist das Gut, das Brot aller, aller euro- päischen Menschen geworden, weil alle daran mitgearbeitet und etwas aus eigenem Besitz eingebracht haben. Wenn ein Gluck, ein Mozart uns so teuer sind, so ist es, weil sie uns allen gehören. Alle: Deutschland, Frankreich, Italien haben mit ihrem Geist und ihrem Blut dazu beigetragen, sie zu er- schaffen.

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V.

Memoiren eines vergessenen Meisters

Die Geschichte ist die parteiischste aller Wissenschaften. Wenn sie sich einen Menschen erkoren hat, liebt sie ihn eifersüchtig und will von andern nichts mehr wissen. Seit dem Tage, da die Größe Johann Sebastian Bachs erkannt wurde, ist alles, was zu seiner Zeit groß war, weniger als nichts ge- worden. Kaum verzeiht man Händel die Anmaßung, ebenso genial gewesen zu sein wie Bach und mehr Erfolg geerntet zu haben. Die andern sind zu Staub geworden; mehr als alle Telemann, den die Nachwelt den Sieg entgelten ließ, den er zu seinen Lebzeiten über J. S. Bach davonzutragen wagte. Dieser Mann, dessen Musik in ganz Europa von Frankreich bis Rußland bewundert war, den Schubart den unvergleichlichen Meister nannte, den selbst der strenge Mattheson für den ein- zigen Musiker erklärte, der über jedes Lob erhaben sei^^^^ jg^ heute vergessen und verachtet. Man versucht nicht einmal, ihn kennenzulernen. Man beurteilt ihn vom Hörensagen, nach Aussprüchen, die ihm in den Mund gelegt wurden und deren Sinn man sich nicht mehr zu verstehen bemüht. Er ist dem Eifer der Bachforscher zum Opfer gefallen, wie dem von Bitter, Wolfrum oder unserem Freund A. Schweitzer, der nicht be- greift, daß Bach mit eigener Hand ganze Kantaten von Tele- mann kopiert hat. Es mag unverständHch sein; aber diese einzige Tatsache, daß er so über Telemann dachte, mag den Bewunderern Bachs zu denken geben. Nur Winterfeld hat seinerzeit die religiösen Werke von Telemann genau studiert und seine historische Bedeutung für die Entwicklung der geistlichen Kantate erkannt. Seit einigen Jahren beginnt man das allzu leichtfertige Urteil der Geschichte zu revidieren. 1907 hat Max Schneider in den „Denkmälern der Tonkunst in Deutschland" zwei der letzten Werke Telemanns heraus- gegeben, den ,,Tag des Gerichts" und ,,Ino", nebst einer vor- trefflichen historischen Einleitung. Ferner hat Gurt Ottzenn

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eine kurze, etwas oberflächliche Studie veröffentlicht; ,,Tele- mann als Opernkomponist, ein Beitrag zur Geschichte der Hamburger Oper" (Berlin 1902), und hat ihr eine Auswahl von Opern- und Singspielfragmenten Telemanns beigefügt.^^^

Mitteilungen über Telemanns Leben fehlen nicht. Er selbst hat dreimal seine Laufbahn beschrieben: 1718, 1729 und 1739.

Diese Freude an der Selbstbiographie lag im Geschmack der Zeit; man findet sie bei andern deutschen Musikern von damals wieder^^*. Sie fällt zusammen mit der Veröffentlichung der ersten Lexika, Wörterbücher und Musikgeschichten von Walther und Mattheson. Man mag mit dieser Freude der jüngeren Künstler, sich zu beschreiben, die Gleichgültigkeit eines Bach oder eines Händel vergleichen, der nicht einmal auf Matthesons biographische Fragebogen antwortet. Händel und Bach waren nicht weniger stolz als Telemann, Holz- bauer usw.; sie waren noch viel stolzer; aber ihr Stolz gipfelte darin, ihre Kunst zu zeigen und ihre Person zu verbergen. Eine neue Zeit trennt das nicht mehr; die Kunst wird das Bild der Persönlichkeit. Telemann entschuldigt sich, um aller Kritik gleich vorzubeugen, am Schluß seines Berichts von 1718, daß er zuviel von sich gesprochen habe. Er möchte ja nicht, sagt er, daß man glaube, er habe sich rühmen wollen:

„Aber wie mit gutem Gewissen für alle Welt bezeugen kan, daß, ausser der erlaubten Ehre, die ein jedweder Mensch haben soll, mich keine närrische Hoffarth plage . . . Und eben also, wann ich viel von meinem Fleisse melde, so ist es nicht ge- schehen, mich damit groß zu machen, indem doch dieses eine allgemeine Bedingung aller Menschen ist, daß sie ohne Arbeit nichts erlangen sollen:

Nil sine magno Vita labore dedit Mortalibus.

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TELEMA^sN

Sondern meine Absicht ist gewesen, diejenigen, so die Music Studiren wollen, zu erinnern, daß sie in dieser unerschöpflichen Wissenschafft, ohne große Bemühung, nicht weit gelangen ..." So glaubt er also, wie viele seiner Zeit, daß es ebenso inter- essant und nützlich sei, sein Leben zu kennen, wie seine Arbeit. Aber auch ohne alle diese Gründe hat er ein unendliches Vergnügen daran, von sich zu sprechen. Seine naiven Be- kenntnisse sind voll Humor, Komik, Überschwang; er füllt sie mit Zitaten in allen Sprachen, eigenen Versen, Allerwelts- Moralsprüchen; er verbirgt nichts, was ihn betrifft; nach dem Tode seiner ersten Frau erzählt er in Versen die Geschichte seiner Liebe, des Brautstandes, der Hochzeit, der Krankheit, des Sterbens; er schenkt uns keine Einzelheit; die ganze Welt muß über seine Freuden und Leiden orientiert sein. Welcher Abstand von Händel und von dem großen Schweigen, in das sich jener hüllte, als er bekümmerten Herzens seine heitere Musik zu ^.Poro^'' schrieb, in den Tagen, da seine Mutter starb! Jetzt fordert der Künstler für seine Persönlichkeit seinen Platz an der Sonne und breitet sich da mit Befriedigung aus. Wer möchte das bedauern: dieser veränderten Anschauung, dieser Entspannung des inneren Zwangs, der den Ausdruck indivi- dueller Empfindungen gehemmt hatte, danken wir die leben- sprühende und befreite Musik am Ende des Jahrhunderts und den Aufschrei der Leidenschaft bei Beethoven.

Georg Philipp Telemann wurde in Magdeburg am 14. März 1681 geboren. Er war Sohn und Enkel lutherischer Pastoren und zählte noch nicht vier Jahre, als er seinen Vater verlor. Sehr frühe zeigte er eine ungewöhnliche Begabung für Latein, Griechisch und Musik. Die Nachbarn vergnügten sich daran, den Knirps Geige, Gitarre und Flöte spielen zu hören. Ein Zug unterscheidet ihn von den anderen deutschen Musikern

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seiner Zeit: er hatte viel Sinn für deutsche Poesie. Als er noch ganz klein war, wurde er, einer der Jüngsten in der Schule, vom Kantor zu seinem Stellvertreter in der Singstunde aus- ersehen. Er nahm auch einige Klavierstunden, aber er verlor bald die Geduld, denn sein Lehrer war ein Organist ganz alt- modischer Art. ,,In meinem Kopffe", erzählt er, ,, spuckten schon muntrere Töngens, als ich hier hörte. Also schied ich, nach einer vierzehntägigen Marter, von ihm ; und nach der Zeit habe ich, durch Unterweisung, in der Musik nichts mehr ge- lernet." (Von einem Lehrer, versteht sich; denn er lernte viel allein und aus Büchern.)

Noch nicht zwölf Jahre alt, fing er zu komponieren an. Der Kantor, den er vertrat, komponierte; der Knabe las heimlich seine Partituren und dachte, wie herrlich es sein müsse, so schöne Dinge zu erfinden. Er fing also gleichfalls an zu schrei- ben, ohne einer Menschenseele etwas davon zu sagen, ließ seine Kompositionen dem Kantor unter einem Pseudonym zugehen und hatte die Freude, sie nicht nur loben, sondern in der Kirche, ja auf der Straße singen zu hören. Er wurde kühner: als ein Opernbuch ihm in die Hände fiel, setzte er es in Musik. Unfaßbares Glück! Die Oper wurde wirklich auf- geführt, und der kleine Komponist spielte selbst eine Rolle darin.

„Ach! aber, welch ein Ungewitter zog ich mir durch be- sagte Oper über den Hals! die Musik-Feinde kamen mit Schaaren zu meiner Mutter, und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltäntzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. werden, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, gethan! mh* wurden Noten, Instrumente und mit ihnen das halbe Leben genommen."

Um ihn noch strenger zu bestrafen, schickte man ihn auf eine entfernte Schule im Harz, nach Zellerfeld. Da trieb er sehr

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erfolgreich Geometrie, aber der alte Adam in ihm war noch stärker. Bei einem Volksfest in den Bergen wurde der Lehrer, der eine Festkantate hätte schreiben sollen, krank. Das Kind benutzte die Gelegenheit, komponierte die Kantate und leitete das Orchester; er zählte kaum dreizehn Jahre, und er war so klein, daß man ihn auf eine Bank stellen mußte, damit die Orchesterspieler ihn sehen konnten. „Die treuhertzigen Berg- leute," erzählt Telemann, „mehr durch meine Gestalt, als durch die Harmonie gerührt, . . . brachten mich hauffenweise nach meiner Wohnung; einer aber von ihnen trug mich auf dem Arme dahin." Der Schulleiter war durch diesen Erfolg ge- schmeichelt, gestattete ihm, die Musik zu pflegen, und erklärte, daß schließlich und endlich dieses Studium dem der Geometrie nicht entgegenstünde, ja, daß sogar eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Wissenschaften bestehe. Der Knabe machte von dieser Erlaubnis Gebrauch, indem er nun die Geo- metrie vernachlässigte. Er setzte sich wieder ans Klavier und studierte den Generalbaß, dessen Regeln er selbst ergründete und aufschrieb, ,,denn", sagt er, „ich wußte noch nicht, daß Bücher davon wären".

Siebzehnjährig kam er auf das Gymnasium nach Hildes- heim, wo er Logik studierte und, obwohl er die „Barbara Cela- rent" nicht leiden mochte, hatte er doch ausgezeichnete Er- folge. Besonders aber machte seine musikalische Ausbildung Fortschritte, und er hörte nicht auf zu komponieren. Kein Tag sine linea. Er schrieb hauptsächlich Kirchen- und Instru- mentalmusik. Seine Vorbilder waren Steffani, Rosenmüller, Corelli, Caldara. Er fand Geschmack an dem Stil der neueren deutschen und italienischen Tonsetzer, an „ihrer Erfindungs- vollen, singenden und zugleich arbeitsamen Arth". Ihre Werke bekräftigten seine instinktive Vorliebe für die ausdrucksvolle Melodie und seine Abneigung gegen den alten kontrapunkti-

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sehen Stil. Er hatte insofern Glück, als er nur eine kurze Strecke von Hannover und von Wolfenbüttel entfernt war, wo berühmte Kapellen den neuen Stil pflegten. Er fuhr hin, sooft er konnte. In Hannover lernte er die französische Manier kennen, in Wolfenbüttel den theatralischen Stil Venedigs. Die Orchester an beiden Höfen waren ausgezeichnet, und Telemann studierte eifrig den Charakter der verschiedenen Instrumente. ,, worin ich aber weiter gegangen wäre, wenn nicht ein zu hefftiges Feuer mich angetrieben hätte, ausser Ciavier, Violine und Flöte, mich annoch mit dem Hoboe, der Traverse, dem Schalümo, der Gambe etc. biß auf den Contrabaß und die Quint-Posaune, bekannt zu machen." Ein höchst moderner Zug: der Kom- ponist sucht nicht Virtuosität auf einem einzelnen Instrument zu erlangen, wie J. S. Bach auf der Orgel und dem Klavier, sondern er will alle Möglichkeiten aller Instrumente kennen. Telemann erklärt diese Kenntnisse für unbedingt nötig zur Komposition.

In Hildesheim schrieb er Kantaten für die kathohsche Kirche, obgleich er überzeugter Lutheraner war. Er verfaßte auch die Musik für die Theaterstücke eines seiner Lehrer, eine Art komischer Opern mit gesprochenen Rezitativen und Arien.

Indessen war er zwanzig Jahre alt geworden, und seine Mutter wollte ebensowenig wie Händeis Vater erlauben, daß er sich der Musik widme. Telemann bäumte sich nicht gegen den Famihenwillen. 1701 ging er nach Leipzig mit der festen Absicht, die Rechte zu studieren. Warum aber mußte er ge- rade durch Halle kommen, wo er die Bekanntschaft des sech- zehnjährigen Händel machte, der dort die Rechte studieren sollte, aber statt dessen Mittel und Wege gefunden hatte, eine Organistenstellung zu erlangen und in der Stadt bereits einen für sein Alter erstaunlichen Ruf genoß? Die beiden

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jungen Leute schlössen Freundschaft, doch mußten sie sich bald trennen, und Telemann setzte schweren Herzens seinen Weg nach Leipzig fort. Er hielt durch, allein kaum angekom- men, geriet er aus einer Versuchung in die andere. Er hatte ein Zimmer in Gemeinschaft mit einem andern Studenten gemietet, aber als er es betrat, fand er Musikinstrumente an allen Wänden, in allen Winkeln des Zimmers. Sein Kamerad war vernarrt in Musik und legte Telemann fortwährend das Martyrium auf, ihn spielen zu hören. Noch verschwieg Tele- mann heroisch, daß auch er Musiker sei, doch es kam, wie es kommen mußte. Eines Tages konnte Telemann nicht wider- stehen, seinem Kollegen einen von ihm komponierten Psalm zu zeigen. (Er behauptet allerdings, der andere habe ihn in seinem Koffer gefunden.) Der Freund hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Geheimnis zu verraten. Der Psalm wurde in der Thomaskirche aufgeführt, und der entzückte Bürgermeister ließ Telemann kommen, überreichte ihm ein Ehrengeschenk und verpflichtete ihn, alle vierzehn Tage ein Stück für die Kirche zu schreiben. Das war zuviel. Telemann schrieb seiner Mutter, daß er es nicht mehr aushielte, er müsse Musiker werden. Die Mutter schickte ihren Segen, und Telemann konnte sich endhch der Musik widmen.

Man merkt daraus, welche Abneigung die damaligen deut- schen Familien hatten, ihre Söhne den Musikerberuf ergreifen zu lassen und es ist merkwürdig, wie viele große deutsche Musiker, Schütz, Händel, Kuhnau, Telemann, zu Beginn die Rechte oder Philosophie studierten. Indessen scheint dieses Studium ihnen keineswegs geschadet zu haben, und die heutigen Musiker, selbst die in ihrem Fach höchstgebildeten, deren all- gemeine geistige Ausrüstung solche Lücken aufweist, sollten diese Beispiele bedenken, die beweisen, daß allgemeine Bildung sich sehr gut mit der Kenntnis der Musik verträgt und sie

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vielleicht sogar bereichert. Telemann jedenfalls verdankt seiner literarischen Bildung einige seiner besten musikalischen Quali- täten, seinen ganz modernen Sinn für das dichterische Element in der Musik, der sich sowohl in lyrischer Deklamation wie in symphonischer Malerei ausspricht.

Während seines Aufenthaltes in Leipzig wurde Telemann Kuhnaus Nebenbuhler, und obgleich er, wie er sagt, den größten Respekt für die ,, rühmlichen Qualitaeten . . . dieses sonderbaren Mannes" hatte, hat er ihm doch Ungelegenheiten genug geschaffen. Kuhnau, der in vollster Mannesreife stand, entrüstete sich darüber, daß ein kleiner Student beauftragt worden war, alle vierzehn Tage eine Komposition für die Thomaskirche zu schreiben, deren Kantor er war. Wirklich war dies einigermaßen beleidigend für ihn und beweist, wie sehr der moderne Stil dem allgemeinen Geschmack entsprach, da auf ein einziges Stück im neuen Stil hin einem unbekannten Studenten vor einem berühmten Meister der Vorzug gegeben worden war. Das war aber noch nicht alles. 1704 wurde Tele- mann zum Organisten und Kapellmeister der Neuen Kirche (später Matthäikirche) ernannt mit der Bemerkung, daß er im Notfalle „capabel wäre, in der Thomaskirche den Chor zu dirigiren und wann sich einmal eine Veränderung be- geben möchte, so hätte man wieder ein tüchtiges subjectum". Wohlverstanden: ,,wenn Herr Kuhnau sterben sollte", denn dieser war hinfällig und von schwacher Gesundheit. Man rechnete also mit seinem Tode, auf den er indessen bos- hafterweise bis 1722 warten ließ. Es ist begreiflich, daß das Verfahren nicht nach Kuhnaus Geschmack war. Den höchsten Grad erreichte seine Erbitterung, als sich Telemann die Leitung der Oper zu verschaffen wußte, obgleich sie in der Regel mit der Organistenstellung unvereinbar war. Alle Studenten wandten sich ihm jetzt zu, gleichermaßen von

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seinem jungen Ruhm, dem Zauber des Theaters und dem bessern Verdienst angezogen. Sie verließen Kuhnau, der sich bitter darüber beklagte. In einem Brief vom 4. Dezember 1704 legt er dar, daß „durch die neülichst daselbst Veränderung und Annehmung eines neuen Organisten, der die hießigen Operen machet . . . , die sonsten ohne Entgelt mit zu Chore gehende und zum Theil von mir unterrichtete Studenten, weil sie aus der Opera sich einiges lucrum machen können . . . , unseren Chor verlaßen, und dem Operisten helffen". Aber Kuhnaus Beschwerde blieb wirkungslos, und Telemann hatte seinen Willen.

So hat Telemann gleich am Beginn seiner Laufbahn dem berühmten Kuhnau Schach geboten, bevor er den Kampf mit Johann Sebastian Bach aufnahm! So stark war die Strömung der neuen musikalischen Mode!

Im übrigen verstand es Telemann, seine Erfolge für sich und für andre fruchtbar zu machen. Er war kein Intrigant, und man kann auch nicht sagen, daß es bloßer Ehrgeiz war, der ihn antrieb, alle Stellen anzunehmen, die er während seiner langen Laufbahn in seiner Hand vereinigt hat: es war viel- mehr eine ungewöhnliche Aktivität und ein fieberhaftes Be- dürfnis, sie auszuüben. In Leipzig arbeitete er voll Eifer, indem er sich Kuhnau zum Vorbild für den fugierten Stil nahm'^^^, und vervollkommnete sich im Melodischen, indem er gemeinsam mit Händel arbeitete^i^. Zu gleicher Zeit gründete er in Leipzig mit den Studenten ein Collegium musicum, welches Konzerte veranstaltete, und leitete so die großen öffentlichen Konzertfolgen ein, die er später auch in Hamburg einführte.

Im Jahre 1705 wurde er nach Sorau, einer Stadt zwischen Frankfurt an der Oder und Breslau, als Kapellmeister eines Edelmannes berufen, des Grafen Erdmann von Promnitz,

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dessen kleiner Hofstaat sehr glänzend war. Der Graf war kürzlich aus Frankreich zurückgekehrt, liebte die französische Musik, und Telemann begann, französische Ouvertüren zu schreiben; mit der Feder in der Hand las er die Werke von „Lully, Campra und andrer guten Meister", und legte sich „fast gantz auf derselben Schreibart", sodaß er „der Ouver- türen in zwey Jahren bey 200. zusammen brachte".

Außer dem französischen lernte Telemann in Sorau den polnischen Stil kennen. Der Hofstaat begab sich zuweilen für einige Monate auf einen oberschlesischen Sitz des Grafen, nach Pleß oder nach Krakau. Hier lernte Telemann ,,die polnische und hanakische Musik^i' kennen in ihrer wahren barbarischen Schönheit. Sie bestund, in gemeinen Wirtshäusern, aus einer um den Leib geschnalleten Geige, aus einem polnischen Bocke; aus einer Quintposaune, und aus einem Regal (kleine Orgel). An ansehnlichen Oertern aber blieb das Regal weg; die beiden erstem hingegen wurden verstärckt: wie ich denn einst 36. Böcke und 8. Geigen beisammen gefunden habe. Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so offt die Tantzenden ruhen, fantaisiren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8. Tagen, Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes ; wenn behörig damit umgegangen wird. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene grosse Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet." 2^®

Die Volksmusik fordert ihr Hausrecht von der gelehrten Kunst. Die deutsche Musik belebt sich in der Berührung mit der nationalen Kunst der Grenzvölker, gewinnt an Natür- lichkeit und Erfindungsfrische und geht so einer neuen Jugend entgegen.

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Von Sorau kam Telernann 1709 an den Eisenacher Ho/, wo er wieder ein musikalisches, von französischen Einflüssen durchsetztes Milieu fand. Der Leiter der Kapelle, Pantaleon Hebenstreit, war ein Virtuose von europäischem Ruf und hatte ein nach ihm Pantaleon oder Pantalon benanntes Instru- ment erfunden, eine Art vervollkommnetes Hackbrett, in dem sich unser modernes Klavier ankündigt. Pantaleon, der sogar den Beifall Ludwigs XIV. geerntet hatte, besaß eine ungewöhn- liche Fertigkeit in der Komposition nach französischem Stil, und die Eisenacher Rapelle war ,,am meisten nach frantzö- sischer Art eingerichtet''. Telemann behauptet sogar, ,,daß sie das parisische Opernorchester übertroffen habe". Hier vollendete er seine französische Erziehung. Tatsächlich ist in Telemanns Leben viel mehr von französischer, polnischer, ita- lienischer, besonders französischer musikalischer Erziehung die Rede als von deutscher. Telemann schrieb in Eisenach eine Menge Konzerte im französischen Stil und eine stattliche Reihe von zwei- bis neunsätzigen Sonaten, Trios, Serenaden, Kan- taten mit italienischem oder deutschem Text, in denen er der Instrumentalbegleitung große Aufmerksamkeit schenkte. Namentlich von seiner religiösen Musik hielt er viel.

In Eisenach, wo Johann Bernhard Bach Organist war, trat Telemann in Beziehungen zu Johann Sebastian und wurde 1714 der Pate seines Sohnes Phihpp Emanuel. Er kam auch in Verbindung mit dem Pastor und Dichter Neumeister, einem der Hauptverfasser der religiösen Kantate in Opernform und einem der bevorzugten Textdichter von J. S. Bach. End- lich trat in Eisenach ein trauriges Ereignis ein, das seinen Charakter sehr tief beeinflussen sollte. Er verlor 1711 seine junge Frau, die er zu Ende des Jahres 1709 in Sorau geheiratet hatte. Er hat diese Erlebnisse in einem langen Gedicht erzählt, welches er benennt:

8 Rolland, Musikalische Reise 113

Poetische Gedanken,

mit welchen die Asche

seiner hertzgeliebtesten Louisen^^^

beehren wollte

derselben hinterlaßener Mann

Georg Philipp Telemann.

1711.

Diese kleine Dichtung, obgleich allzu weitschweifig und von etwas geschwätziger Empfindsamkeit, ist doch voll innigen Gefühls, wie eine schöne Musik. Es beginnt:

So sah ich dich mein Schatz, auf einer Todtenbaare! Ists möglich, daß ich noch für Jammer athmen kan!

Er erzählt, wie sie sich kennen gelernt und geliebt hatten.

Wir sahen uns zu erst in einem fremden Lande. Ich dachte nicht an sie. Sie wußte nichts von mir . . . Ich weis nicht, wo ich sie zum erstenmahl erblicket; Dies weis ich, daß sie mir gleich liebenswürdig schien . . . Ich dachte bey mir selbst: die hab ich mir ersehen . . . Doch wollte Gott mit mir gantz fremde Wege gehen, Und sprach: du mußt zuvor ein andrer Jacob seyn: Das hieß: Ich solte sie durch Müh und Schweiß erlangen.

Er seufzte jahrelang nach ihr. Sie schien gleichgültig. Wie litt er, als er sie einmal schwerkrank wußte! Ein andermal wollte man sie verheiraten. Er „dacht, er müßte sich das Hertze selber fressen". Sie schien noch immer ohne Empfin- dung für ihn. Erst im letzten Augenblick, als er Sorau auf der Flucht vor der schwedischen Invasion verließ, ließ sie ihn in ihrem Herzen lesen.

Ich gieng, und nahm von ihr die letzte gute Nacht. Allein, was wolte mich doch dieser Abschied lehren?

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Ich sah ein weinend Aug und naßes Angesicht: Sie ließ (ach welche Lust!) mich diese Worte hören: f'ahrt wohl, mein Teleraann! vergeßet meiner nicht! Ich trat die Wallfahrt an mit Millionen Freuden, Obschon des Feindes Schwert mir hinterm Rücken war.

Nun kamen die Liebesbriefe, endlich die Rückkehr, der Heiratsantrag, die Verlobung. „Wie mir damals geschah, das weis ich selber nicht."

So waren sie nun Eheleute und es war ein wolkenloses Glück trotz mancher Sorge und schmaler Bissen.

Der Tisch war königlich in unser beyder Augen, Auf den doch selten mehr, als eine Schüßel kam. Kein Zank trübte ihre treue Liebe. Nun kam auch noch ein „liebes Kind".

Anitzo fangen mir die Glieder an zu beben.

Ich komm auf einen Punct, der gar zu bitter ist.

Sechs Tage nach der Geburt war sie wohl, heiter und zu Scherzen aufgelegt, wie immer. Allein er hatte seltsame Vor- gefühle. Er verbarg sich, um zu weinen.

So bald der Abend kam, so fieng sie an zu klagen. Sie verlangte einen Priester.

Es war als träumte mir. Ich könnt unmöglich glauben. Daß ihres Lebens Ziel so nahe solte seyn Drum wolt ich ihr erst nicht den Geistlichen erlauben Doch als sie heftig bath, gieng ich es endlich ein.

Sie sagte:

Ich bitte dich itzund vom Grunde meiner Seelen, Verzeihe, wenn ich dir jemals ein Leid gethan.

Sie sprach von ihrer Liebe in den rührendsten Worten: An statt der Antwort, ließ ich bittre Thränen rinnen.

8* 115

Der Priester kam.

Hier lernt ich erst was recht mit Andacht bethen heißt, Ihr angenehmer Mund hieß eine Himmelspforte . . . Nur Jesus war ihr Trost. Nur Jesus war ihr Leben. Nur Jesus war Licht. Nur Jesus war ihr Heil.

Immer wieder rief sie ihn an. Denn Jesus! Jesus war ihr Wort ohn Unterlaß, Und das auch eher nicht aus ihrem Munde schiede, Als bis der bittre Tod schon auf der Zunge saß. Und endlich spürt ich auch nach mir noch einge Triebe; Sie reichte mir die Hand, und fing hebreitzend an: Ich danke tausendmal für deine treue Liebe . . . Dein Hertze wohnt in mir, Dieß nehm ich mit zum Him- mel . . .

Man wollte, daß sie schliefe. Sie verweigerte es, indem sie mit ihrer schönen Stimme sang:

Ich laße Jesum nicht! Ich hoff auf sein Erbarmen; Er liebt mich und ich ihn. Ich laße Jesum nicht! So sang sie voller Lust mit ausgespannten Armen, Und kehrte Himmelwärts ihr lachend Angesicht , . . Die Mattigkeit nahm zu, Sie fiel in einen Schlummer, In dem sie (wo mir recht) zwo gantzer Stunden lag. Bey mir verschwand indeß ein großer Theil von Kummer ; Ich wartete getrost auf einen guten Tag, Die süße Ruhe ward ihr endlich unterbrochen; Sie fieng gantz unverhoft, doch etwas Krafftloß an: Mein Jesus hat mit mir im Traum gesprochen . . . Drauf kam ihrs dunkel vor, indem sie wolte klagen: Die Lichter hätten nicht, wie vor, den Schein Und, daß ich alles mag mit wenig Worten sagen: Sie neigte sich, und schlief in Christo selig ein.

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Und solt ich meine Noth und meine Quaal beschreiben: Allein, wo fang ich an ? . . .

Schreib ich: der Himmel liegt mir ängstlich auf dem Rücken: Der ganzen Erde Last hat meine Brust beklemmt: Die dicke Luft wil mich mit Bangigkeit ersticken; Das Blut in Adern wird versticket und gehemmt; Die Ohren brausen mir, als hörte ich ein Wetter; Ein schwartzer Nebel nimbt den Augen ihren Schein; Es zittern Hand und Hertz, als wie die leichten Blätter; Die Füße wollen nicht des Leibes Stütze seyn: Und wenn ich alles diß der Länge nach erzählte: Hätt ich nur von meiner Pein berührt. Gnug: wie ein solcher Schmertz die matten Sinne quälet. Weiß niemand sonst, als wer dergleichen selbst verspürt. Er schließt mit den Worten: „Mein Engel gute Nacht!"

Man fühlt aus dieser rührenden Erzählung, die von schmerz- licher Glaubenskraft durchdrungen ist, daß Telemann wie er sagt, in Eisenach „auch im Christenthume ein gantz anderer Mensch worden" ist. Aber so tief er auch getroffen war, seine Natur war zu lebendig und zu regsam, als daß er sich in seinen Schmerz vergraben konnte: drei Jahre später nahm der untröstliche Gatte eine zweite Frau, die es sich zur Auf- gabe machte, das Andenken der ersten zu rächen.

Er hatte Eisenach verlassen. Trotz seiner schönen Stellung am Hofe hatte ihn sein Abwechslungsbedürfnis bewogen, einen Antrag nach Frankfurt am Main im Jahre 1712 anzunehmen.

„Aber wie gerathe ich zu denen HHnn Republicanern," sagt er selbst, „bey welchen, wie man glaubet, die Wissenschafften wenig gelten,

le docte aavoir ne leur semble plus rien Von hazarde tout four acquerir du bien?^^^

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Ich weiß nicht, was mich bewog, einen so auserlesenen Hof, als der eisenachische war, zu verlassen; aber das weiß ich, damahls gehört zu haben: Wer Zeit Lebens fest sitzen wolle, müsse sich in einer Republick niederlassen; und obschon nicht bey allen Höfen eintrifft:

Qu' au matin Vair pour nous est tranquille et serein Mais sombre vers le soir et de nuages plein,

am allerwenigsten aber in Eisenach zu vermuthen war, so ließ mir doch endhch den Rath gefallen: Ich möchte die Wahr- heit dieses Spruches nicht in eigner Erfahrung erwarten."

Er hatte seinen Entschluß nicht zu bereuen. Er wurde zum Kapellmeister mehrerer Frankfurter Kirchen ernannt und nahm überdies die seltsame Stellung eines Intendanten bei einer vornehmen Frankfurter Gesellschaft an, die sich im Haus Frauenstein vereinigte, und von der er mit ganz anderen als musikahschen Angelegenheiten betraut wurde: er ver- waltete die Finanzen, versorgte die Festmahlzeiten, hielt ein Tabakskollegium usf. Es war das eine Sitte der Zeit, und Telemann vergab sich nichts, als er diese Stellung annahm, sondern wurde damit im Gegenteil ein Mitglied des vor- nehmsten Kreises der Stadt. Er gründete dort 1713 ein großes Collegium musicum, das sich von Michaelis bis Pfingsten alle Donnerstage im Frauenstein vereinigte, um die Gesellschaft zu erlustigen und sie in der Musik zu vervollkommnen. Diese Konzerte waren nicht geschlossen, man konnte auch Fremde einführen. Telemann übernahm es, sie mit Musik zu versorgen: Sonaten für Solovioline oder mit Klavierbegleitung, kleine Kammermusik, Trios für Geige, Oboe, Flöte oder Fagott und Kontrabaß, fünf Oratorien über das Leben Davids, mehrere Passionen, darunter eine auf den berühmten Text von Brockes, deren Erstaufführung in der Frankfurter Hauptkirche 1716 ein

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großes musikalisches Ereignis war, zwanzig Hochzeitsserenaden, ,,zu welchen allen", sagt Telemann, ,,die Verse mich zum Ur- heber haben; deren viele ich aber, in Ansehung ihrer Freiheit, und ihres nicht gar zu schmackhafften Saltzes, itzo zu schreiben Bedenken tragen würde." Diese Hochzeitsserenaden enthielten Arien zu Ehren jeder Gesundheit, die man ausbrachte. Die Ordnung der Trinksprüche war, wie folgt:

1. Auf Ihro Römisch-Katholische Majestät,

2. Auf Ihro Majestät die Römische Kayserin,

3. Auf Se. Hochfürstl. Durchl. Printz Eugenium,

4. Auf Se. Hochfürstl. Durchl. Hertzog von Marlborough,

5. Auf eines Hoch-Edlen Magistrats und sämbtlicher Stadt Franckfurth Wohlfarth.

6. Auf einen baldigen und guten Frieden und das dadurch florirende Commercium.

7. Auf die Jungfer Braut.

8. Auf den~ Herrn Bräutigam. Schluß-Aria auf das Hochzeit-Paar.

(Ein glückliches Paar, in der Tat, das bis zum neunten Toast durchhalten mußte.)

Dies war während des Krieges mit Ludwig XIV., und man war dem Frieden schon nahe, den Telemann in einer Kantate (3. März 1715) feierte. Er schrieb auch eine auf den Sieg des Kaisers bei Semlin und bei Peterwardein, auf den Frieden von Passarowitz 1718, von den Geburtstagen der kaiserlichen Familie gar nicht zu reden.

1721 verheß er Frankfurt, um nach Hamburg zu gehen, wo er zum Kapellmeister und Kantor am Johanneum ernannt wurde. Der Wandermusikant sollte endlich hier einen ruhigen Halt finden, eine Stellung, die er ein halbes Jahrhundert lang bis zu seinem Tode behielt. Allerdings war er 1723 wieder nahe daran auszuwandern, um die Nachfolge des nun endlich

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doch dahingegangenen Kuhnau in Leipzig anzutreten, für die man ihn einmütig gewählt hatte. Aber Hamburg wollte ihn nicht ziehen lassen und nahm alle Bedingungen Telemanns an. Noch ein wenig später, 1729, kam er in Versuchung, nach Ruß- land zu gehen, wo man ihm vorschlug, eine deutsche Kapelle zu begründen, ,, Hamburgs Annehmlichkeit aber, und der Vor- satz . . . endlich stille zu sitzen, überwogen die Begierde nach einer ausserordentlichen Ehre".

,, Stille zu sitzen . . ." Die Ruhe Telemanns war eine sehr bedingte. Er hatte den musikalischen Unterricht am Gym- nasium und am Johanneum zu leiten und zwar fast täglich Gesangs- und musikhistorische Kurse. Er hatte für die fünf Hamburger Hauptkirchen die Musik zu liefern, mit Aus- nahme des Doms, wo Mattheson thronte. 221 Er war Musik- direktor der Hamburger Oper, die sehr heruntergekommen war, aber 1722 wieder flottgemacht wurde. Diese Stellung war kein Ruheposten. Die Parteinahme für die Künstler war nicht weniger heftig als in der Londoner Oper unter Händel und der Federkrieg um nichts weniger bissig. Telcmann wurde nicht geschont und sein eheliches Unglück und die lebhafte Neigung seiner Frau für schwedische Offiziere brutal ans Licht gezerrt. Seine musikalische Impulsivität scheint jedoch darunter nicht gelitten zu haben, denn gerade aus dieser Zeit stammen eine Reihe von Opern und Singspielen, die von guter Laune und reicher Erfindung sprühen.

Ihm genügte das aber noch nicht: sofort nach seiner Ankunft in Hamburg hatte er ein Collegium musicum und öffentliche Konzerte begründet. Die Konservativen wollten dem Kantor verbieten, seine Musik in einem öffentlichen Wirtshaus hören zu lassen und dort Opern, Komödien und andere ,,alle dergleichen zur Wollust anreitzende Spiele" aufzuführen, aber Telemann gab nicht nach und siegte schheßlich. Die von ihm begründeten

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Konzerte dauern bis auf unsere Zeit. Sie fanden zuerst in der Kaserne der Bürgergarde zweimal wöchentlich, Montag und Donnerstag um vier Uhr, statt. Der Eintrittspreis betrug 1 fl. 8 Gr. Telemann brachte hier alle seine Arbeiten zur Aufführung, religiöse und profane, für öffentliche oder private Zwecke geschriebene oder schon aufgeführte, nicht zu gedenken jener, die er für eben diese Konzerte schrieb: Psalmen, Oratorien, Kantaten, Instrumentalmusik. Er dirigierte kaum je andere Musik als die seine. 222 Diese Konzerte waren von der besten Gesellschaft besucht, von der Kritik beachtet und erreichten, da sie sorgsam und regelmäßig geleitet wurden, bald eine hohe Blüte. 1761 errichtete man ihnen einen schönen heizbaren Saal.

Aber mehr: 1728 gründete er die erste deutsche Musik- zeitung. 223 Er behielt den Titel eines sächsischen Kapell- meisters bei und lieferte weiter die Tafel- und sonstige höfische Fest-Musik nach Eisenach. Als er von Frankfurt weg ging, hatte er sich verpflichtet, zum Dank für das ihm verliehene Bürger- recht alle drei Jahre religiöse Kompositionen zu schicken. Seit 1726 war er Kapellmeister von Bayreuth und schickte jährlich eine Oper und Instrumentalmusik hin. Da endlich die Musik nicht hinzureichen schien, um seine Regsamkeit zu beschäftigen, wurde er noch Korrespondent des Eisenacher Hofes und sandte Berichte über die Ereignisse im Norden. Wenn er krank war, diktierte er seinem Sohn.

Die Summe seiner Arbeit ist kaum zu berechnen. In zwanzig Jahren seines Lebens, allein von 1720 bis ungefähr 1740, zählt er zusammen: zwölf vollständige religiöse Zyklen für alle Sonn- und Feiertage des Jahres224^ neunzehn Passionen, deren Dichtungen vielfach auch von ihm waren, etwa zwanzig Opern und Singspiele und ebensoviele Oratorien, gegen vierzig Serenaden, sechshundert Ouvertüren, Trios, Konzerte, Klavier- stücke usw., siebenhundert Arien usw.

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Diese märchenhafte Regsamkeit wurde nur durch eine Reise unterbrochen, die nach Paris, die der Traum seines Lebens gewesen war. Oft schon war er von Pariser Virtuosen, die seine Werke bewunderten, dorthin eingeladen worden. Nun kam er zu Michaelis 1737 an und blieb acht Monate. Blavet, Guignon, Forcroy der Jüngere und Edouard^^s spielten seine Quartette auf ,, bewunderungswürdige Art. Sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmerck- sam, und erwarben mir, in kurtzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war". Er benutzte sie und ließ in Paris diese Quartette und sechs Sonaten stechen. 226 Am 25. März 1738 brachte das Concert Spirituel seinen 71. Psalm, fünf stimmig mit Orchester. Er schrieb in Paris eine französische Kantate, ,,Polypheme" , und eine komische Symphonie über ein Lied, das gerade in der Mode war, „Pere Barnabas'\ ,,und schied mit vollem Ver- gnügen von dannen, in Hoffnung des Wiedersehens".

Er blieb Paris treu und Paris ihm. Man stach weiter seine Arbeiten in Frankreich und führte sie im Concert Spirituel auf. Telemann seinerseits sprach mit Begeisterung von seiner Reise und kämpfte in Deutschland für französische Musik. Die „Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen" sagen 1737: ,,Herr T. wird indes die Kenner der Musik gar sehr verbinden, wenn er, seinem Versprechen gemäs, den gegen- wärtigen Zustand der Musik zu Paris, so wie er ihn aus eigener Erfahrung erlernet hat, deutlich beschreibet, und dadurch die französische Musik, welche er in Teutschland so sehr in Auf- nahme gebracht, immer beliebter bey uns zu machen suchet." Telemann fing nun an, diesen Vorschlag auszuführen. In einer Vorrede schreibt er 1742, daß er schon ein gut Teil seiner Reiseerfahrungen zu Papier gebracht habe und daß nur der Zeitmangel ihn an der Vollendung gehindert hat. Es sei um

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so wünschenswerter, sie zu veröffentlichen, sagt er „als es gilt, den Vorurteilen, so man hin und wieder gegen Fran- zösische Musik heget, einigermassen dadurch abzuhelffen". Leider weiß man nicht, was aus diesen Aufzeichnungen ge- worden ist.

In seinem Alter teilte dieser liebenswürdige Mensch sein Herz zwischen zwei Leidenschaften: für die Musik und für Blumen. Es sind Briefe erhalten, in denen er um Blumen bittet und von seiner ,, Unersättlichkeit in Hyazinthen und Tulpen" spricht, von seinem ,,Geiz nach Ranunkeln und be- sonders Anemonen." Das Alter brachte ihm Beschwerden: die Beine wurden schwach, das Sehvermögen schlecht, aber niemals litten sein musikalischer Tätigkeitsdrang noch seine gute Laune darunter. Auf eine Arienpartitur schrieb er 1762:

Mit Dinte, deren Fluß zu stark, Mit Federn, die nur pappicht Quark Bey blöden Augen, finsterm Wetter Bey einer Lampe, schwach von Licht, Verfasst' ich diese säubern Blätter. Man schelte mich deswegen nicht!

Seine stärksten musikalischen Kompositionen datieren aus den letzten Jahren seines Lebens, als er über achtzig Jahre alt war.22 7 Ein Jahr vor seinem Tode 1767 veröffentUchte er noch ein theoretisches Werk und schrieb eine Passion. Er starb am 25. Juni 1767 zu Hamburg, reich an Jahren und an Ruhm. Er zählte mehr als sechsundachtzig Jahre.

Fassen wir die Resultate dieser langen Laufbahn nun zu- sammen und trachten wir, ihren Hauptlinien nachzugehen. Wie immer wir die Qualität dieser Lebensarbeit auch beurteilen mögen, es ist unmöglich, die phänomenale Quantitative zu

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übersehen und die staunenswerte Vitalität eines Menschen, der vom zehnten bis zum sechsundachtzigsten Jahre mit nie er- mattender Freude und Begeisterung komponiert, seine hundert andern Beschäftigungen gar nicht gerechnet.

Vom Anfang bis zum Schluß bleibt diese Vitalität enthu- siastisch und frisch. In keinem Augenblick seines Lebens altert er und wird konservativ, sondern er strebt immer mit der Jugend vorwärts ein seltener Fall. Seit seinen Anfängen zieht ihn die neue Kunst, die melodische, an, und er verbirgt seine Abneigung gegen das Versteinerte nicht.

1718 schreibt er im Hinblick auf sich diese schlechten fran- ■^ösischen Verse nieder:

„iVe les eUve pas (die Alten) dans un ouvrage saint

Au rang dans ce temps les Auteurs ont atteint.

Plus feconde aujoud'hui la Musique divine

Uun art laborieux etale la doctrine,

Dont on voit chaque jour s'accroitre les progrez."

Diese Verse sprechen für ihn: in dem großen Streit der Alten und der Neuen ist er ein Moderner, und er glaubt an den Fort- schritt. ,,Man darf zur Kunst nicht sagen: Du kannst nicht mehr weiter. Man kann immer weiter, man soll immer \^feiter- gehen." „Ist in der Melodie nichts Neues mehr zu finden," schreibt er dem zaghaften Graun, „so muß man es in der Har- monie suchen." 22^

Der überaus konservative Graun ist entsetzt:

„In der Harmonie neue Thöne suchen, kommt mir ebenso vor, als in einer Sprache neue Buchstaben. Unsere jetzigen Sprachlehrer schaffen lieber etliche ab.^^so

„Ja, heißt es: man soll aber nicht zu weit gehen; bis in den untersten Grund, antworte ich drauf," schreibt Tele- mann, „wenn man den Namen eines fleißigen Meisters ver-

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dienen will. Solches habe zu bewerkstelligen getrachtet, als ich die Hand an mein Intervallensystem gelegt, und mir daher keinen Vorwurf wegen unnutzer Klauberey zu machen, sondern vielmehr, wenigstens von der Nachwelt, ein Gratias vermute."

Dieser verwegene Modernismus setzte sogar Neuerer wie Scheibe in Erstaunen. In seiner Vorrede zu seiner ,, Abhandlung von den Musicalischen Intervallen" (1739) sagt Scheibe, daß die Bekanntschaft mit Telemann, die er in Hamburg machte, ihn noch mehr in der Richtigkeit seines Systems bestärkt habe, ,,weil", so schreibt er, ,,ich in den musicalischen Stücken dieses großen Mannes sehr oft solche ungewöhnliche und fremde Intervallen antraf, die ich fast selbst noch nicht für brauchbar gehalten hatte, weil ich sie noch nicht bey andern Compo- nisten angetroffen, ob ich sie schon längst unter die Reyhe der Intervallen hatte, und von ihrer Gewißheit aus meinem System bereits überführet war . . . Ich hörte mit größtem Ver- gnügen, daß Er alle Intervalle, die sich in meinem System be- fanden, mit der schönsten Zierlichkeit und so nachdrücklich und rührend in seinen Stücken anbrachte, wo es nur die Stärke der Gemütsbewegungen erforderte, daß man, ohne der Natur selbst zu wiedersprechen, diese Intervallen unmöglich ver- werfen konnte ..."

Ein anderes Feld der Musik, auf dem er ein begeisterter Neuerer war, ist die Tonmalerei. Hier erreichte er einen uni- versellen Ruhm, indem er zugleich den Vorurteilen seiner Landsleute entgegentrat: denn man liebte diese musikahschen Schilderungen, die nach französischem Geschmack waren, in Deutschland nur wenig; indessen ließen sich auch die Streng- sten von der Kraft einiger dieser Bilder unterjochen. Max Schneider hat in einer Lessingausgabe^^^ das folgende Urteil von PhiUpp Emanuel Bach gefunden:

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„Herr Bach, welcher hier in Hamburg Telemanns Stelle er- halten hat, ist beständig ein besonderer Freund von diesem gewesen . . . Telemann, sagt er, ist ein großer Mahler, wovon er besonders in einem seiner Jahrgänge (Zyklen kirchlicher Musik für alle Festtage des Jahres), welcher hier der Zellische heißt, ganz ausnehmende Beweise gegeben hat. Unter andern führte er mir eine gewisse Arie an, worin er das Erstaunen und Schrecken über die Erscheinung eines Geistes ganz unnach- ahmlich ausgedrückt habe, so daß man auch ohne die Worte, welche höchst elend sind, gleich hören könne, was die Musik wolle. Aber Telemann übertrieb auch nicht selten seine Nach- ahmung in das Abgeschmackte, indem er Dinge mahlte, welche die Musik garnicht mahlen sollte. Graun hingegen hatte einen viel zu zärtlichen Geschmack, um in diesen Fehler zu fallen; aber die Hut, auf der er desfalls beständig stand, macht auch, daß er selten oder gar nicht mahlte und sich meistensteils einer lieblichen Melodie begnügte."

Sicherlich hatte Graun einen feineren Sinn für das Schöne, aber der Telemanns für das Leben war viel stärker.

Ein vornehmer Kritiker jener Zeit, Christian David Ebeling, Professor am Hamburger Johanneum, schrieb^^a kurz nach Telemanns Tode:

,,Ein großer Hauptfehler in allen seinen Werken, den er den Franzosen abgelernt hatte: er war so sehr in die musikalischen Mahlereyen verliebt, daß er sie nicht selten ganz widersinnig anbrachte, an einem mahlerischen Worte oder Gedanken kleben blieb, und darüber den Affekt des Ganzen vergaß ; daß er in Spielwerke verfiel, und Dinge mahlen wollte, die keine Musik ausdrücken kann . . . Aber man muß auch gestehen, daß keiner mit stärkern Zügen mahlt, und die Einbildungskraft mehr zu erheben weiß, als er, wenn er diese Schönheiten zur rechten Zeit anbringt."

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Man vergesse nicht, daß Händel sich zu gleicher Zeit der gleichen deutschen Kritik aussetzte. Schrieb doch Peter Schulz 1772, er könne nicht verstehn, wie ein Mann von Händeis Begabung sich und sein Talent so weit erniedrigen kann, in einem Oratorium durch Noten die ägyptischen Plagen, die hüpfenden Heuschrecken, das Ungeziefer und andere ähnlich ekelhafte Dinge zu malen. Man könne sich einen törichteren Mißbrauch der Kunst nicht vorstellen.

Der wackere Peter Schulz ist ein charmanter Musiker, und in der Theorie hat er möglicherweise recht; aber was nützen Theorien? Alle Ästhetiker der Welt können durch a + b beweisen, daß jede Tonmalerei absurd ist und daß Händel ebenso wie später Berlioz und Richard Strauß sich gegen den guten Geschmack und gegen die Musik selbst vergangen haben: das hindert nicht, daß der Hagelchor in „Israel in Ägypten" ein Meisterwerk ist und daß man seinem Brausen ebensowenig widerstehen kann wie dem Rakoczy- marsch oder der Schlacht im ,, Heldenleben". Ohne eine über- flüssige Diskussion heraufzubeschwören (denn die Musik be- darf ihrer nicht, und das Publikum folgt der Musik und läßt die Streiter im Stich) muß man bemerken, daß man schon zu Telemanns Zeit hier auf französische Einflüsse aufmerksam wurde.

Man hat in seiner Lebensbeschreibung gesehen, daß ihm die Möglichkeiten, französische Musik kennenzulernen, nicht gefehlt hatten. Im ganzen war seine musikalische Erziehung mehr französisch als deutsch. Zuerst in Hannover, als er sieb- zehnjährig das Gymnasium in Hildesheim besuchte, dann 1705 in Sorau und ein drittes Mal in Eisenach, bei Pantaleon Hebenstreit (1709), hatte er sich in einem französischen Milieu befunden und sich bemüht, im französischen Stil zu arbeiten. Seine Pariser Reise 1737 hatte ihn völlig zu einem Franzosen

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in Deutschland gemacht, der von seiner Sache durchdrungen war und sie mit Überzeugung vertrat. Er hatte die Franzosen in Deutschland in Mode gebracht.^^^

Wenn er daran dachte, die Eindrücke seiner Pariser Reise zu Papier zu bringen, so geschah es, nach seinem Geständnis, nur, um die landläufigen Vorurteile gegen französische Musik zu bekämpfen und um sie in ihrer wahren Schönheit, als subtile Nachahmerin der Natur aufzuzeigen.

Ein merkwürdiges Dokument zeigt uns, welch genauer Kenner französischen Stiles Telemann war: es ist dies eine Korrespondenz mit Graun von 1751 52 über Rameau^^*. Graun hatte Telemann einen langen Brief geschrieben, in dem er die Rezitative in ,,Kastor und Pollux" zerpflückte. Er tadelte den Mangel an Natürlichkeit, die falschen Intonationen, das Arioso, das im Rezitativ nicht am Platze war, die grund- losen Takt Veränderungen, die ,,dem Sänger und Accompagna- teurs" Schwierigkeiten machen: ,,. . . ist also nicht natürhch. Und halte ich es vor eine Haupt Regel: Man muß ohne erhebliche Ursache keine unnatürliche Schwierigkeiten machen," und er fügt „sub rosa" hinzu: „Mir deucht das französische Recitativ- Singen komme dem Hunde Geheule^^s etwas nahe . . . Enfin, mir gefällt die französische Recitatif Art ganz und gar nicht, u. wie ich in meinem Leben erfahren habe, so fält sie auch in keinem Theile der Welt als nur in Frankreich . . ." Und nun fällt er über Rameau her. „Rameau, welchen die Pariser le Grand Rameau, Vhonneur de la France nennen. Rameau muß es wohl selbst auch glauben, daß er es sey, denn er hat, wie Hasse erzählt, selbst gesagt: Er könnte nichts schlechtes machen. Worinnen äußert sich denn seine rhetorische, philosophische und mathematische Gelehrsamkeit? in der Melodie oder im Satze? . . . Ich gestehe, ich habe in der Mathematique wenig oder nichts gethan, habe auch in der Jugend keine Gelegen-

128

GRAUN

heit gehabt, habe aber auch erfahren, daß die mathematischen Compositeurs der practischen Music wenig Nutzen und Elire verschafft, wie ich gleichfalls gesehen, daß der große Mathe- maticus Euler falsche , . . Sätze angegeben hat."

Telemann erwidert^^S;

,,Hochedelgebohrener insonders Hochzuehrender Herr u. liebwehrtester Freund ! Wir wollen uns vergleichen. Ew. Hoch- edelgeb. suchen zu behaupten: der Welschen^^^ ihr Recitatif sey vernünftiger, als der Franzosen ihres. Ich sage sie taugen alle beyde nichts, in so fern wir ihnen eine Aehnlichkeit mit der Sprache beylegen; will aber doch, wenn Sie draufdringen, Ihnen Ihren ersten Satz, mit Vorbehaltung einer Bedenkzeit wegen des andern, friedliebend einräumen, auch das Mandat mit unterschreiben, daß künftig alle Völker nach dem Italiä- nischen Leisten recitiren sollen."

Darauf geht er die von Graun zitierte Stelle aus Rameaus „Kastor und Pollux" durch:

Telaire zu Pollux (II. Akt, 5. Szene)

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9 Rolland, Musikalische Reise

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„Daß der herrschende Affect," sagt er, „herrisch sey, solches erhellet aus den Worten digne de Jupiter mtme. Diesen Affect hat der Componist nicht allein erreichet, sondern auch die Nebenobjecte im Vorbeygehen berühret. Infortune zärtlich; resusciter ein rollender Triller; Vanacher au tornbeau, prächtig; ni'empecher eine Aufhaltung, triompher trotzig; ä ce qu'il ahne zärtlich, meme erhaben; digne eine Dehnung... Bald be- komme ich Lust, auch den Baß durch zu gehen, da sich denn zeigen würde, daß er ohne matt zu werden, nicht anders hat seyn können, als er ist. Wie verhält sich unser Italiäner?" Der Italiener war Graun, der es für nötig gehalten hatte, die Stelle bei Rameau zu überarbeiten, und zwar auf folgende Weise :

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pui/, Ze ren-dre au jour, ä ce qu'il ai - me, c^estinon-

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trer ä Ju-pi-terme-me, guevous i - tes di - gne de lui.

^3

S

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*Das wird nun von Telemann mit boshaftem Vergnügen durchgehechelt:

„Die Harmonie ist bis zur Hälfte traurig, bitter, sauer, und die Nebenobjecte sind, ungeachtet ihrer Verschiedenheit, auf einerley Ahrt vorgetragen, und ermüden also das Ohr ... Im 2ten Tacte ist eine Pause wodurch der Wortverstand unter- brochen wird, im 7*^° Tacte sind aus rendre au jour vier Sylben gemacht ..." Nun folgen einige sehr richtige Bemer- kungen über die Art, wie ein Franzose „rezitiert", ganz anders als ein Italiener, über die Aussprache verschiedener franzö- sischer Worte, die Graun falsch aufgefaßt hat, über ,, nam- hafte" Worte, die im Französischen vokahsiert werden müssen: „Triompher, voler, chanter, rire, gloire, victoire". Hier hat Telemann ein kleines ironisches Lächeln. „Die Tact Ver-

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änderungen machen dem Franzosen gar keine Schwierigkeit. Es lauft alles nach einander fort, wie Champagnerwein . . . Ob die französischen Recitative in keinem Welttheile gefallen, das weiß ich nicht, weil die Geschichtsbücher nichts davon melden . . . Zum wenigsten habe ich Deutsche, Engländer, Rußen, Polacken u, auch ein Par Juden gekannt, die mir ganze Auftritte aus dem Atys, Bellerophon etc. auswendig vor- gesungen. Das macht sie haben ihnen gefallen. Hingegen ist m.ir kein einziger Mensch vorgekommen, der von den Welschen mehr gesaget als: Sie wären schön, excellent, unvergleichlich, aber ich habe nichts davon behalten können . . ." Er fügt hinzu, daß er wohl seine Rezitative „nach dem Welschen Fuße abfaße . . ., um mit dem Strome zu schwimmen," daß er aber ganze Zyklen religiöser Musik und Passionen im französischen Stil komponiert habe. Endlich bekennt er sich zu den harmo- nischen Kühnheiten und stützt sich dabei auf die Franzosen, die ihnen Beifall zollen.

Graun antwortet etwas beleidigt. ^^s Er behauptet, daß Telemann Rameaus Rezitativ nicht ohne Malice verteidigt habe. „Denn", sagt er, „Sie wollen wie aus einer kleinen Leicht- fertigkeit glauben machen, daß bei Infortune der Ausdruck zärtlich sey. Ich glaube aber, daß wenn es auch bie7i heureux wäre, der Ausdruck auch gantz wohl stehen könnte . . . Durch einen rollenden Triller die Resuszitation zu exprimiren, ist mir ganz was unbekiinndtes, weil man nur von einer einzigen Auferweckung . . . was weiß, davon aber die Schrifft nichts ge- denket, daß dabey was wäre gerollet worden . . , Die Expreßion bey Varracher au tombeau halten Sie vor prächtig . . ." Er glaube, ,,daß wenn die Worte etwan hießen: mettre dans le tom- beau, die Modulation denen Worten ähnlicher seyn würde, als sie der Gompositeur gemacht . . . Das Zärtliche bey ä ce qiCil aime kann nicht finden, wenn' bey dem Contrario, d ce

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quil halt könne die Modulation eben auch mit Recht paßiren. Bey der vermeinten Erhabenheit des Wortes meme stelle ich mir in Gedanken ein klägliches französisches Heulen vor, weil in einem hohen Tone 2 Sylben ausgesprochen werden müssen, welches dem habilsten Sänger sauer wird."

Nachdem er einige Fehler Rameaus bezeichnet hat, fügt er hinzu :

,,Mon eher! mich deucht hierinnen sind Sie ein bißgen zu partialisch vor die Nation, sonst würden Sie dergleichen Haupt- fehler wieder die Rhetoric nicht so leicht paßiren laßen, zu- mahl da alle Blätter von Rameau davon voll sind."

Hierauf geht er zu der an ihn gerichteten Kritik über: „Sie fragen, mon eher! Wie verhält sich . . . unser Italiener? Ich als ein teutzscher, wie Sie, suche das vornehmste in der gantzen Rede zu exprimiren, . . . die eintzelne Wort-Ex- preßiones aber, wenn sie nicht natürlich fallen, gantz und gar erlaße . . ., verbleibe also bey dem mir vor vernünftig vor- kommenden Schlentrian, (wie Sie ihn zu nennen belieben.) Denn in der stuffen Weise angebrachten Erhöhung der Music finde eine wahrhaffte Nachahmung des Redners, welcher seine Stimme dabey erheben wird und muß."

Ungern gesteht er ein, daß er sich bei der Zählung der Silben des französischen Verses geirrt habe und hat dafür die sonder- bare Ausrede, die französischen Komödianten sprächen ihre Verse, als wenn es Prosa wäre, und nähmen die Anzahl der Silben nicht so genau in Acht.^^»

Wir haben Telemanns Antwort nicht mehr, aber ein Brief Grauns vom 15. Mai 1756 beweist, daß sie vier Jahre später noch immer über dem Rameauschen Rezitativ im Streit lagen und daß keiner von beiden nachgab.

Dieser ästhetische Zweikampf zweier deutscher Musiker von höchster Geltung im 18. Jahrhundert zeigt bei beiden eine

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ernste Kenntnis der französischen Musik und Sprache. Tele- mann zeigt sich darin, wie während seines ganzen Lebens, als der Vorkämpfer französischer Kunst in Deutschland. Das Wort, mit dem er sie charakterisiert (die französische Musik, die subtile Nachahmerin der Natur), läßt sich auch auf seine eigene Musik anwenden. Er hat dazu beigetragen, daß die deutsche Musik von der IntelUgenz und der Ausdrucksschärfe französischer Kunst angenommen und die Gefahr, unter Meistern wie Graun in einem abstrakten Schönheitsideal blaß und aus- druckslos zu werden, überwunden hat.

Zu gleicher Zeit hat er die ursprüngliche Verve, den ener- gischen leichten, lebhaften Ausdruck der polnischen und der neueren italienischen Musik mitgebracht. Das war nötig: die deutsche Musik in all ihrer Größe roch ein wenig nach Moder. Man hätte vielleicht nicht mehr atmen können ohne die Ströme frischer Luft, welche Leute wie Telemann durch die offenen Pforten Frankreichs, Polens, Italiens hereinließen bis endlich Johann Stamitz die vielleicht wichtigste, die Böhmens öffnete. Wenn man das gewaltige Auflodern der Flamme begreifen will, die in der deutschen Musik zur Zeit Haydns, Mozarts und Beet- hovens so strahlende Helle verbreitete, muß man die kennen- lernen, die den großen Stoß geschichtet haben, muß man sehen, wo das Feuer zuerst aufgUmmte. Ohne dieses würden die großen Klassiker wie ein Wunder erscheinen, während sie im Gegenteil nur die natürliche Entwicklung eines ganzen Jahr- hunderts von genialen Begabungen abschlössen.

Ich will nun einige der Wege aufzeigen, die Telemann der deutschen Musik gebahnt hat.

Sogar die ungerechtesten seiner Kritiker haben seine große komische Begabung für das Theater anerkannt. Er scheint der- jenige gewesen zu sein, der die komische Oper zuerst in Deutsch-

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land heimisch gemacht hat. Zweifellos findet man hier und da komische Züge bei Keiser: es war im Hamburger Theater üblich, daß ein Clown, ein komischer Diener, in allen Stücken, selbst in den tragischen, vorkam; er sang komische Lieder mit selir einfacher, zuweilen einstimmiger Begleitung oder ganz ohne eine solche. Selbst Händel gehorcht dieser Tradition in seiner in Hamburg gespielten ,,Almira". Man spricht auch von einem Keiserschen Singspiel aus dem Jahre 1710, ,,Bon Vivant oder die Leipziger Messe", und es scheint auch noch andere dtr- artige Veranstaltungen um jene Zeit gegeben zu haben. In- - dessen VrTirde der wirklich komische Stil in die deutsche Musik erst durch Telemann eingeführt; die einzige komische Oper, die uns von Keiser erhalten ist, ,,Joddet^^ (1726), kommt erst nach denen von Telemann und ist sicherlich von ihnen beeinflußt. Telemann besaß Humor. Er fing damit an, dem Zeitgeschmack entsprechend, kleine komische Lieder für den Clown zu schreiben^*" Das genügte ihm aber noch nicht. Er hatte einen Hang zur Spötterei, wie Ottzenn bemerkt, und verstand die komische Seite einer Figur oder einer Situation aufzuzeigen, wo der Textdichter nur die ernste gesehen hatte. Seine erste, in Hamburg gespielte Oper, „Der geduldige Sokra- tes" (1721), weist ausgezeichnete Szenen auf. Sie behandelt das ehehche Unglück des Sokrates. Der Librettist fand, daß eine böse Frau nicht genügt, und versah ihn großmütig mit deren zwei, die sich unaufhörlich zanken und die Sokrates zu besänftigen hat. Das Duett der Schreierinnen im zweiten Akt^^i ist so unterhaltend, daß es heute noch Erfolg haben könnte. Diese Buffo-Strömung zeigt sich in Hamburg besonders seit 1724. Die Oper langweilte; man versuchte, in Deutschland die komischen Intermezzi der Italiener einzuführen, welche damals ganz neu waren. Man mengte französische komische Ballette ein. Im Fasching 1724 gab man in Hamburg Frag-

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mente der ,, Galanten Europa" von Campra und des ^^Pour- ceaugnac'"'' von Lully; Telemann schrieb dazu komische Tänze auf französische Art^^^. Im nächsten Jahre Heß er ein Inter- mezzo auf italienische Manier, ,,Pimpinone oder die ungleiche Heirat", spielen, dessen Sujet genau das der „Serva padrona" ist, die vier Jahre später geschrieben wurde. Auch der Stil ist dem Pergolesis sehr verwandt. Wer ist nun das gemein- same Vorbild? Sicherlich ein Italiener, vielleicht Leonardo Vinci, dessen erste komische Opern aus dem Jahre 1720 stam- men. Jedenfalls ist hier ein merkwürdiges Beispiel dafür, mit welcher Raschheit Sujets und Stile von einem Ende Europas zum andern wanderten, und auch eins für Telemanns Geschick, sich der fremden Art anzupassen.

Der deutsche Text dieser Vorläuferin der ,,Serva padrona" ist von Praetorius. Er enthält zwei Personen, Pimpinone und Vespetta, und drei Szenen ohne Ouvertüre. Beim Aufziehen des Vorhangs singt Vespetta eine reizende kleine Arie, in der sie ihre Qualitäten als Kammerfrau rühmt. ^*^ Die geistvolle Musik hat einen völlig neapolitanischen Charakter, pergolesisch vor Pergolesi, die gleiche nervöse Lebhaftigkeit, die abgehackten Wendungen, die plötzlichen Unterbrechungen und überraschen- den Sprünge, die spöttischen Repliken des Orchesters, welches die Vorzüge Vespettas unterstreicht oder ihnen widerspricht: ,,Son da bene, son sincei-a, non amhisco^ non pretendo . . ." Pimpinone erscheint; Vespetta beginnt den Alten mit einer deutschen Arie zu umschmeicheln; mitten in ihrem Gesang bezeugen drei kurze a parte ihre Zufriedenheit. Ein Duett, in dem beide Personen das gleiche Motiv haben, beendigt das erste Intermezzo. Im zweiten bittet Vespetta um Verzeihung für ein unbedeutendes Versehen und stellt es so an, daß sie noch Lob erntet. Sie benimmt sich so, daß Pimpinone ihr anträgt, seine Pimpinona zu werden, doch läßt sie sich sehr

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bitten. Im dritten Intermezzo ist sie die Herrin geworden. Soweit ist Pergolesi nicht gekommen, was von seinem Takt zeugt; denn nun wird die Geschichte minder erquicklich. Aber um das Hamburger Publikum zufriedenzustellen, mußte es Stockprügel geben. So beherrscht 'also Vespetta das Haus und läßt Pimpinone nicht die mindeste Freiheit, der, allein geblieben, sehr darüber klagt. Er spielt sich selbst ein Gespräch seines Weibes mit einer Gevatterin vor, wobei er beide Stimmen nachahmt, dann einen Streit zwischen sich und seiner Frau, in dem er unterliegt. Vespetta erscheint, neuer Zank, und in einem Schlußduett jammert Pimpinone, während Vespetta hell auflacht. 24^ Hier ist eines der ersten Beispiele des Duetts, in welchem beide Charaktere auf individuelle Art gezeichnet und gerade durch ihren Gegensatz komisch werden. Ein so großer Bühnenmusiker Händel auch war, er hat diese neue Kunst nie wirklich versucht.

Immerhin war der komische Stil Telemanns noch zu italie- nisch und mußte deutschem Wort und deutschem Denken noch besser angenähert und mit kleinen Liedern von gut- mütiger Komik, wie er sie gelegentlich schrieb, ausgeschmückt werden. Aber der erste Schritt war getan, und dieser funke und sprühende Stil eines Vinci oder Pergolesi sollte der deutschen Kunst nicht mehr verloren gehen. Seine Verve elektrisierte die etwas steife Lustigkeit der Landsleute des großen Bach. Er trug nicht nur zum Entstehen des Sings- piels bei, sondern sein Lächeln belebt noch die neuen Mann- heimer und Wiener Symphonien.

Ich übergehe die andern komischen Intermezzi Telemanns: „ia Cayricciosa", ,,Die Amours der Vespetta" (eine Fort- setzung des ,, Pimpinone") usw., sondern erwähne nur noch einen ,,Don Quichott" (1735), der heitere Stücke und gut gesehene Charaktere enthält^^s,

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Aber dies ist nur eine Seite des Bühnentalentes von Tele- mann; man hat nur allzusehr die andere, die tragische, vergessen. Selbst der einzige Historiker, der sich mit seinen Opern beschäftigt hat, Gurt Ottzenn, verweilt nicht genug dabei. Wenn ihm sein Schreibfieber Zeit zum Denken läßt, ist Tele- mann zu allem fähig, sogar zur Tiefe. In seinen Opern gibt es nicht nur schöne ernste Arien, sondern, was noch seltener ist, schöne Chöre. Derjenige, welcher im dritten Akt des ,,Sokrates"246 q[^ Adonisfest veranschaulicht, ist von erstaun- lich modernem Stil.^*' Das Orchester umfaßt drei Clarini sordi- nati, zwei Hoboen, welche in gedehnten Tönen eine klagende Melodie hören lassen, zwei Violinen, eine Viola und den Kontra- baß, senza cembalo. Der dunkle Klang ist sehr schön. Telemann hat wirklich den Zusammenklang der ,, verschiedenen sonoren Gruppen gefunden", den man kaum zu suchen anfing. Das Stück hat eine reine Ergriffenheit, in der sich schon die neu- antike Reinheit Glucks ankündigt. Es könnte ein Chor aus „Alceste" sein; auch in der Harmonie kommt das zum Aus- druck.

Man findet bei Telemann aber auch eine romantische Note, einen Sinn für die Poesie der Natur, welche auch Händel nicht fremd ist, aber bei Telemann vielleicht noch verfeinerter auftritt, wenn er sich Mühe gibt, denn sein Empfinden ist moderner. So überrascht die Nachtigallenarie der Mirtilla im ,, Dämon" (1724) unter den unzähhgen Nachtigallenarien jener Zeit durch ihre ganz impressionistische Feinheit.

Dennoch genügen Telemanns Opern allein nicht, um ihn zu beurteilen. Die acht, die uns erhalten sind, sowie die Serenata ,,Don Quichott der Löwenritter" wurden alle in Hamburg in den wenigen Jahren von 1721 29 geschrieben. ^^^ In dem folgenden halben Jahrhundert hat sich Telemann sehr ent-

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wickelt, und man muß ihn gerechterweise nach den Werken der zweiten Hälfte seines Lebens beurteilen oder mehr noch nach denen des Endes: denn hier erst zeigt er ganz, was er kann.

Statt der Opern haben wir aus dieser Zeit Oratorien und dramatische Kantaten. Die von Max Schneider in den Denk- mälern der deutschen Tonkunst veröffentlichten „^^^ Tag des Gerichts" und ,,Ino" sind für die Geschichte der deutschen dramatischen Musik fast ebenso interessant wie die Opern von Rameau und Gluck.

Die Dichtung zum „Tag des Gerichts" 2*®, ,, einem Sing- gedicht voll starker Bewegungen", stammt von einem früheren Schüler Telemanns am Hamburger Gymnasium, dem Pastor Ahler, einem freisinnigen, keineswegs pietistischen Mann. Zu Beginn erwarten die Gläubigen die Ankunft Christi; die Un- gläubigen, als richtige Philosophen des 18. Jahrhunderts, ver- spotten sie im Namen der Wissenschaft und der Vernunft. Nach einer ersten etwas schwachen und abstrakten Meditation beginnt das Gericht: die Wogen bäumen sich auf, Blitze zucken, Welten wanken und stürzen ein, der Engel erscheint, die Trompeten tönen: Christus ist da. Er ruft die Gläubigen zu sich, deren Jubelchöre ihn umbrausen, und stürzt die heulenden Sünder in den Abgrund. Der vierte Teil handelt von dem Glück der Seligen. Vom zweiten zum vierten Teil ist dies Werk ein einziges mächtiges Crescendo; der dritte und der vierte Teil scheinen nur ein einziger und gehören ganz zusammen, ohne Unterbrechung. ,,In wie hohem Grade hat der Komponist das Streben des Dichters nach Geschlossenheit der von der zweiten Betrachtung ab unaufhaltsam vorwärtsdringenden Handlung gefördert! Niemand wird da an Pausen zwischen den einzelnen Musikstücken denken können; in einem Zuge geht es weiter, selbst das anfänglich so häufig verwende Da capo wird fallen gelassen oder erscheint doch nur noch, wo

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es auffallend kurz die dramatische Entwicklung nicht hemmt." 250 Rezitative, Choräle, Arien, Chöre gehen eins ins andere über^^i y^jj heben einander durch ihren Kontrast, indem sie so die dramatische Wirkung verdoppeln.^^^ Tele- mann hat sich mit wahrer Herzensfreude einem Thema hin- gegeben, das ihm so reichen Stoff zu Malereien bot: das Prasseln und stürmische Wogen der Geigen im Chor zu Be- ginn des zweiten Teils: ,,Es rauscht, so rasseln stark rol- lende Wagen", mit seinem dramatischen, fast Beethovenschen Schluß; die Erzählung von den Wundern, die den Untergang der Welt einleiten, die Flammen, die aus der Erde steigen, das stürmische Jagen der Wolken, die zerklaffende Sphären- harmonie, der Mond, der aus seiner Bahn tritt, der Ozean, der sich erhebt, endlich die Trompete des Jüngsten Gerichts. Der packendste der Chöre ist jener der Sünder, die in die Hölle gestürzt werden, mit ihren das Entsetzen ausdrückenden Synkopen und dem dumpfen Rollen des Orchesters. ^^^ An schönen Arien fehlt es nicht, namentlich im letzten TeiP^*, allein sie sind weniger originell als die von der Malerei des Orchesters begleiteten Rezitative. Es ist Händelscher oder Bachscher Stil, aber ohne kontrapunktische Strenge. Die neue melodische Kunst mischt sich hier zuweilen mit einer strengen Form, die für einen Telemann schon etwas Altmodisches hat. 2^^ Hier liegt auch nicht die Stärke der Arbeit, sondern in ihren beschreibenden Szenen und dramatischen Chören.

Die Kantate ,,Ino" verfolgt den Weg des musikalischen Dramas noch weiter. Die Dichtung ist ein Meisterwerk Ramlers, der sein Teil zur Wiedererweckung des deutschen Liedes beitrug. Sie wurde 1765 veröffentlicht. Einige Tonsetzer haben sie in Musik gesetzt, unter anderm Johann Christoph Friedrich Bach aus Bückeburg, Kirnberger, Abt Vogler. Sie wäre noch ein schöner Vorwurf für einen Musiker von heute. Die Sage

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von Ino, der Tochter des Kadmos und der Harmonia, der Schwester der Semele und Amme des Dionysos, ist bekannt. Sie vermählt sich dem Athamas, der, von Juno um den Verstand gebracht, einen seiner Söhne tötet und den andern töten will. Ino entflieht mit dem Kinde, und da sie sich verfolgt sieht, stürzt sie sich ins Meer, das sie empfängt: sie wird zur weißen Leukothea, dem Schaum des Meeres gleich. Die Ramlersche Dichtung läßt allein Ino vom Anfang bis zum Schluß auftreten: es ist eine Rolle von erdrückenden Maßen, denn sie bewegt sich in immerwährender Leidenschaft. Zu Beginn erscheint sie in raschem Lauf auf den Felsen über dem Meer; sie hat die Kraft nicht mehr zu fliehen und fleht zu den Göttern. Sie gewahrt Athamas, hört ihn rufen und wirft sich ins Meer. Eine sanfte und ruhige Symphonie empfängt sie. Ino spricht ihr Entzücken aus; allein sie gewahrt, daß ihr das Kind aus den Armen gefallen ist, glaubt es tot, ruft nach ihm und will sterben. Sie sieht den Chor der Tritonen und Najaden, die es tragen; sie beschreibt ihren wunderbaren Weg auf den Grund des Meeres, die Korallen und Perlen, die sich in ihren Haaren fangen; die Tritonen umtanzen sie und begrüßen sie als ihre Göttin unter dem Namen Leukothea. Plötzlich sieht Ino, wie die Meeresgötter sich wenden und zur Huldigung die Arme ausstrecken: Neptun naht in seinem Wagen, von schnaubenden Rossen gezogen, den goldenen Dreizack in der Hand. Ein Jubelgesang an den Gott beschließt die Kantate.

Diese prachtvollen hellenischen Visionen riefen nach der Phantasie eines Musikers, der zugleich Maler und Dichter war. Tolemanns Musik ist der Dichtung würdig. Es ist wunderbar, daß ein mehr als Achtzigjähriger ein so frisches und so leiden- schaftliches Werk schreiben konnte. Es gehört vollkommen zu der Gattung musikalischer Dramen. Wenn Gluck auch wahr- scheinUch Einfluß auf die Ino des Telemann gehabt hat 2^^,

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konnte es doch auch sein, daß er seinerseits von der Ino viel gelernt hat. Viele Stellen rivalisieren mit den berühmtesten dramatischen Rezitativen der ,,Alceste" oder der „Iphigenie in Aulis". Vom ersten Takt an ist man mitten in der Handlung. Eine großartige, etwas schwere Energie, der Glucks ähnlich, belebt die erste Arie. 2^' Das Orchester, welches das Entsetzen Inos, die Ankunft des Athamas, Inos Sprung ins Meer darstellt, ist für jene Zeit von erstaunlich malerischer Kraft. Man glaubt am Schlüsse die Wogen zu sehen, die sich öffnen, man verfolgt den Körper Inos, der in der Tiefe versinkt und sieht, wie das Meer sich wieder schließt. Die ruhig-klare Symphonie, die den königlichen Frieden der Gewässer darstellt, ist von Händelscher Schönheit. Aber nichts, nicht nur in dieser Kantate, sondern wie es mir scheint, in Telemanns Lebenswerk, übertrifft die Szene von Inos Verzweiflung, als sie ihren Sohn verloren zu haben glaubt. ^^^ Diese Stelle ist eines Beethoven würdig mit einigen Berliozschen Zügen in der Orchesterbegleitung. Die Ergriffenheit ist von einer ganz einzigen Intensität und Freiheit. Der Mann, der dies schreiben konnte, war ein großer Musiker und verdiente seinen Ruhm und verdient nicht, daß er heute vollständig vergessen ist.

Das übrige Werk enthält nichts, was an diese Größe heran- reichte, obgleich es an Schönheiten nicht fehlt und sie, wie im ,,Tag des Gerichts", einander wechselweise zur Geltung bringen, sei es durch ihre Verkettungen^^', sei es durch ihre Kontraste. Den leidenschaftlichen Klagen Inos folgt ein Stück im Neun- achteltakt, welches den schönen Reigen der Nereiden um da» Kind darstellt. Dann folgt die Fahrt durch das Wasser, die leichten Wellen, welche die göttlichen Reisenden tragen, kleine Tänze im galanten Stil, die einen kurzen Ruhepunkt im Gesang bilden, eine reizende Arie mit zwei Flöten und Violinen consordini „Meint ihr mich"26o^ gjj^ wenig in Hasses Vokal- und Instru-

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mentalstil. Ein Instrumentalrezitativ kündet machtvoll das Erscheinen Neptuns an. Schließhch endet das Werk mit einer Bravourarie, die einen germanisierten Rossinistil ankündigt, wie man ihn in den ersten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts bei Weber und selbst gelegentlich bei Beethoven findet. Im ganzen Laufe dieses Werkes ist nicht eine Unterbrechung, nicht ein Seccorezitativ. Alles geht in einem Fluß und folgt dem Laufe des Werkes; nur am Anfang und am Schluß finden sich zwei Dacapoarien.

Wenn man von solchen Arbeiten liest, schämt man sich ein wenig, so lange nichts von Telemanns Kunst gewußt zu haben, und grollt ihm zugleich, daß er von einer solchen Begabung nicht den Gebrauch gemacht hat, den er hätte machen müssen. Man ist ärgerlich, Plattheiten und Trivialitäten neben voll- kommenen Schönheiten zu finden. Wenn Telemann sorgsamer mit seiner Kunst verfahren wäre, wenn er nicht soviel geschrie- ben, nicht soviel Ämter übernommen hätte, würde sein Name in der Geschichte vielleicht ein stärkeres Echo haben als selbst der von Gluck; zumindest hätte er seinen Ruhm geteilt. Aber hier sieht man einmal, von welch gerechter Moral zuweilen die Urteile der Geschichte sind: es genügt nicht, Talent zu haben, es genügt auch nicht, fleißig zu arbeiten wer wäre fleißiger gewesen als Telemann? , man muß auch Charakter haben. Gluck hat, mit viel weniger Musik in sich als zehn andere Kom- ponisten des 18. Jahrhunderts, als Hasse, Graun, Telemann, das Werk zustande gebracht, zu dem andere das Material zu- sammengetragen haben und von dem er nicht einmal den zehnten Teil benutzt hat. Denn er besaß die machtvolle Be- herrschung über seine Kunst und sein Genie. Er war ein Mann. Die andern waren nur Musiker. Und in der Musik ist das nicht genug.

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Anhang

Man müßte auch Telemanns Anteil an der Instrumentalmusik studieren. Er war einer der deutschen Vorkämpfer der „fran- zösischen Ouvertüre". Bekanntlich versteht man darunter die dreiteilige Symphonie nach Lullys Art: 1. langsam, 2. rasch, 3. langsam, der rasche Teil frei fugiert und der langsame des ersten Teiles in der Regel zum Schluß wiederholt. Die fran- zösische Ouvertüre kam 1679 mit Steffani und 1680 mit Cousser nach Deutschland. Sie erreichte den Höhepunkt ihrer Beliebt- heit gerade zur Zeit Telemanns, in den ersten zwanzig Jahren des 18. Jahrhunderts. Wir haben gesehen, daß Telemann diese Instrumentalform mit Vorliebe gegen 1704 05 angewendet hat, als er beim Grafen Promnitz in Sorau die Werke Lullys und Campras kennen lernte. Er schrieb damals in zwei Jahren zweihundert französische Ouvertüren und gebraucht noch in Hamburg diese Form für einzelne Opern^^^.

Das hindert ihn nicht, gelegentlich auch die italienische Ouvertüre anzuwenden: 1. rasch, 2. langsam, 3. rasch. Er nennt sie Konzert, weil er eine erste konzertierende Violine darin benutzt. Wir haben ein ganz hübsches Beispiel dafür in der Ouvertüre zum ,, Dämon" (1724)262^ dessen Stil analog dem der concerti grossi Händeis ist, welche aus 1738 39 stammen. Zu bemerken wäre, daß der dritte Teil {vivace ^/g) ein Dacapo ist, dessen mittlerer Teil in Moll steht.

Telemann schrieb auch für seine Opern Instrumentalstücke, in denen französischer Einfluß bemerkbar ist, besonders in den hie und da gesungenen Tanzstücken^^^.

Unter den andern Instrumentalformen, die er anwendet, ist die hauptsächlichste das Instrumentaltrio, die Triosonate, wie sie die Deutschen nannten^^^. Sie hat in der Musik von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. einen bedeuten-

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den Platz eingenommen und viel zur Entwicklung der Sonaten- form beigetragen. Telemann beschäftigte sich mit ihr besonders in Eisenach 1708; er sagt, daß nichts von seiner Musik so ge- schätzt wurde wie diese Werke. Er verfuhr bei diesen Ar- beiten, wie er selbst erzählt, so, daß die zweite Stimme die erste zu sein schien und daß der Baß eine natürliche Melodie war, die mit den andern die entsprechende Harmonie ergab, bei jeder Note vorwärtsschreitend, so daß es schien, als könne es nicht anders sein. Hugo Riemann hat eins dieser Trios in seiner Sammlung „Collegium musicum^^ veröffentlicht. Dieses Trio in Es-Dur, der J.Tafelmusik" von Telemann entnommen, hat vier Sätze: 1. affettuoso, 2. vivace ^/g, 3. grave, 4. allegro ^/^. Das zweite und das vierte Stück sind zweiteilig mit Wiederholung. Das erste und zweite Stück hängen zusammen, ähnlich dem grave und fugue der französischen Ouvertüre. Die Form ist noch die der Sonate mit einem Thema, neben dem langsam ein Nebenthema aufzukeimen beginnt. Noch ist man dem Augen- blick zu nahe, wo sich die Sonate aus der Suite löst, aber die Themen haben schon modernen Charakter; einige, namentlich das des grave, sind völlig italienisch, man kann sagen pergole- sisch. Durch seinen Hang zu individuellem Ausdruck in der Instrumentalmusik hat Telemann Einfluß auf Joh. Friedrich Fasch aus Zerbst ausgeübt; allein hier hat der Schüler den Meister weit übertroffen. Fasch, auf den Hugo Riemann in den letzten Jahren verdienstlich wieder das Augenmerk gelenkt hat, war einer der stärksten Meister der Triosonate und einer der Vorkämpfer des modernen Symphoniestiles. Man sieht, daß Telemann auf allen musikalischen Gebieten: Theater, Kirche oder Instrumentalmusik, seinen Platz dort hat, wo die neuen Bewegungen einsetzen.

10 Rolland, Muaikallflche Reise 145

VI.

Metastasio als Vorläufer Glucks

Die Frage des Musikdramas hat keinen der großen Musiker und Musiker-Dichter des 18. Jahrhunderts gleichgültig gelassen. Alle haben versucht, es zu vervollkommnen oder es auf neue Grundlagen zu stellen. Es wäre ungerecht, Gluck allein die Reform der Oper zuzuschreiben. Händel, Hasse, Vinci, Rameau, Telemann, Graun, Jommelli und viele andere haben sich mit ihr beschäftigt. Hat sich doch selbst Metastasio, den man oft als das hauptsächlichste Hindernis für die Einführung des modernen lyrischen Dramas hinstellt, weil er im Gegensatze zu Gluck stand, nicht weniger als Gluck, wenn auch in anderer Weise, bemüht, der Oper all die psychologische und dramatische Wahrheit zu geben, die sich mit der Schönheit des Ausdrucks in Einklang bringen läßt.

Es mag nicht unnötig sein, daran zu erinnern, wie sich das Talent dieses Dichters gebildet hat, der musikalischer war als irgendeiner vor oder nach ihm ,, dieses Mannes", wagte Burney sogar zu behaupten, „dessen Dichtungen wahrschein- lich der Vervollkommnung der sanghaften Melodie oder viel- mehr der Musik überhaupt mehr gedient haben als die ver- einten Anstrengungen aller großen Musiker Europas."

Seit seinen Anfängen als Wunderkind hatten ihm seine musikalischen Studien den Gedanken einer poetischen Reform eingegeben, die seinen Namen berühmt machen sollte. Die Zu- fälle seiner Herzensgeschichte, die er planvoll meisterte, haben nicht wenig zu seiner musikahsch-poetischen Vervollkommnung beigetragen. Einer Sängerin fiel das Verdienst zu, ihn entdeckt zu haben. E. Celani hat diese Geschichte in einem Artikel „/Z primo amore di P. Iletastasio" erzählt^^^.

Zuerst verliebte sich Metastasio in die Tochter des Kompo- nisten Francesco Gasparini, eines Schülers Coreliis und Pas- quinis, jenes Mannes, der die Kenntnis des bei canto voll- kommen beherrschte und die bedeutendsten Schüler ausbildete,

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wie die Faustina und Benedetto Marcello. Sie lernten sich in Rom 1718 19 kennen. Gasparini wollte Metastasio mit seiner Tochter Rosalia verheiraten, die Metastasio unter dem Namen Nice besang; Celani hat den Entwurf eines Ehekontrakts aus dem April 1719 wiederaufgefunden. Aber ein unerwartetes Hindernis trat ein, Metastasio reiste im Mai 1719 nach Neapel, und Rosalia heiratete einen andern.

In Neapel traf Metastasio mit der Frau zusammen, die den entscheidenden Einfluß auf seine künstlerische Laufbahn haben sollte: mit der Romanina (Marianna Benti), einer berühmten Sängerin und Gattin eines gewissen Bulgarelli. Metastasio war damals Schreiber bei einem Advokaten, der die Poesie haßte, was ihn aber nicht hinderte, Gedichte, Kan- taten und Serenaden zu schreiben, die unter einem andern Namen erschienen. 1721 schrieb er zur Feier eines kaiserhchen Geburtstages eine Kantate ^fili orti Espendi'\ von Porpora in Musik gesetzt; die Romanina, vorübergehend in Neapel, sang die Rolle der Venus. Der Erfolg war groß, die Romanina wollte den jungen Dichter kennen lernen und verliebte sich in ihn. Sie zählte fünfunddreißig Jahre, er dreiundzwanzig. Sie v/ar nicht schön^^^, mit groben, etwas männlichen Ge- sichtszügen, aber von großer Güte und starker Intelligenz. Die Elite der Künstler scharte sich in Neapel um sie: Hasse, Leo, Vinci, Palma, Scarlatti, Porpora, Pergolesi, Farinelli. In diesem Kreis vollendete Metastasio seine literarisch-musikalische Bil- dung, dank den Gesprächen dieser Männer, dem Unterricht, den ihm Porpora erteilte, und besonders den Ratschlägen, der tiefen Einsicht und Kunsterfahrung der Romanina. Für sie schrieb er sein erstes Melodrama, die „Didone abbandonata" (1724), denkwürdig in der Geschichte der itahenischen Oper durch ihre Innigkeit und ihren Racineschen Reiz. Die Ro- manina glänzte in Rollen aus seinen ersten Dichtungen, dar-

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unter im „Siroe", den fast alle großen Komponisten Europas in Musik gesetzt haben.

Nach 1727 gingen sie nach Rom und führten dort ein selt- sames Familienleben zu dritt: Metastasio, die Romanina und der Gatte BulgarelU. Die Romanina verachtete ihren Mann und liebte Metastasio mit eifersüchtiger Leidenschaft. Die alte, oft dagewesene Geschichte fand ihren unvermeidlichen Abschluß. Metastasio reiste ab. 1730 wurde er als poeta Cesareo nach Wien berufen. Er verließ Rom und gab seiner „cara Marianna" die Voll- macht, seinen Besitz und seine Renten zu verwalten, zu verkau- fen und auszutauschen, ohne ihm Rechenschaft darüber ablegen zu müssen. Die Romanina konnte diesen Abschied nicht ertragen, und drei Monate später machte sie sich auf zur Reise nach Wien. Sie kam aber nicht weiter als bis Venedig. Ein Zeitgenosse^^' erzählt, daß die ,,Didone abbandonata" zum größten Teile die Geschichte Metastasios und der Romanina ist. Metastasio fürchtete, daß sie ihm in Wien Unannehmlichkeiten bereiten und seinem Ruf schaden könnte. Er verschaffte sich eine Kabinettsorder, die der Romanina die Einreise in die kaiser- lichen Staaten untersagte. Die Romanina war außer sich und versuchte sich in ihrer Erregung mit einem Taschenmesser zu töten, verletzte sich aber nur an der Brust. Die Wunde war nicht tödlich, aber sie starb wenige Jahre danach aus Schmerz und Verzweiflung.

Einige ihrer Briefe an den Abbe Riva, der den Vermittler spielte, zeigen die Leidenschaft der unglücklichen Frau. Hier sind einige besonders rührende Zeilen, die sie in Venedig am 21. August 1730, vermutlich nach ihrem Selbstmordversuch und als sie versprochen hatte, vernünftig zu sein, an ihn schrieb:

,,Da Sie dem Freunde soviel Freundschaft bewahren, erhalten Sie ihn mir, helfen Sie ihm, machen Sie ihn so glück- lich, als Sie nur können, und glauben Sie mir, daß ich keinen

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andern Gedanken auf der Welt habe. Wenn ich mitunter verzweifle, dann nur, weil ich seinen Wert zu sehr kenne und weil es keinen größeren Schmerz für mich gibt, als ge- trennt von ihm zu leben. Aber ich bin so entschlossen, seine Achtung nicht zu verlieren, daß ich geduldig die Tyrannei ertragen will, die eine solche Grausamkeit geschehen läßt: ich versichere Sie, daß ich alles tun werde, um meinem sehr geliebten Freunde angenehm zu sein und um ihn mir zu er- halten; ich werde mein möghchstes tun, um gesund zu bleiben, in dem einzigen Gedanken, ihn nicht zu betrüben . . ."

Sie schleppte ihr elendes Leben noch vier Jahre hin. Meta- stasio antwortete mit kühler Höflichkeit auf ihre leidenschaft- lichen Briefe. Die Vorwürfe der Romanina erschienen ihm ,, regelmäßig und unvermeidlich, wie ein Quartalsfieber". Sie starb in Rom am 26. Februar 1734, achtundvierzig Jahre alt und tat Metastasio die letzte edle Rache an, ihn zu ihrem Universalerben zu ernennen. ,,Ich tue dieses", sagte sie, „nicht nur aus Dankbarkeit für seine Ratschläge und die Hilfe, die er mir im Unglück und in langer Krankheit erwiesen hat, sondern damit er sich in Ruhe seinen Arbeiten hingeben möge, die ihm soviel Ruhm gebracht haben." Metastasio, beschämt von soviel Großmut, verzichtete zugunsten Bulga- rellis und empfand heftige Gewissensbisse bei dem Gedanken an die ,,povera e generosa Marianna" . . . ,,Ich glaube, daß es keinen Trost für mich geben wird; der Rest meines Lebens wird saft- und freudlos sein." (13. März 1734.)

Das ist die Liebesgeschichte, die ein Stück Musikgeschichte ist, da es dieser Frau zu danken ist, daß Metastasio zum Racine der italienischen Oper wurde. Das Echo der Stimme jener Romanina kUngt noch in seinen Versen wider, die, wie Andres sagt, „so fließend und harmonisch sind, daß ich glaube, man muß zu singen anfangen, wenn man sie liest"..

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^an^M. Je

Diese Sangbarkeit von Worten ohne Töne hatte den Zeit- genossen starken Eindruck gemacht. Marmontel bemerkt, daß „Metastasio die Phrasen, die Pausen, den Takt und alle Teile seiner Arien so festgelegt hat, als hätte er sie selbst ge- sungen".

Er sang sie auch in der Tat. Wenn er seine Dramen dichtete, saß er am cemhalo, und oft schrieb er die Musik zu seinen Dich- tungen. Man denke an Lully, der am Klavier Quinaults Ge- dichte sang und sie für sich zurechtmachte. Hier sind die Rollen vertauscht. Der italienische Quinault komponiert seine Gedichte am Klavier und zeichnet die Linien der Musik vor, die sie schmücken soll. In einem Brief vom 15. April 1750 schreibt Metastasio der Prinzessin Belmonte, der er die Musik von Caf- farello zu seinem Gedicht „Abschied von Nice" schickt: ,,Caf- farello kannte die Schwächen meiner Musik [dellamia musicaY'' das heißt, daß er welche geschrieben hatte ,,die Worte haben ihm leid getan, und er hat ihnen ein besseres Gewand angepaßt." ^^^ In einem andern Briefe des gleichen Jahres (21. Februar 1750) an die gleiche sagt er:

„Eure Exzellenz wissen, daß ich nichts für den Gesang zu schreiben vermag, ohne mir gut oder schlecht die Musik dazu auszudenken. Das